Jesus erklärt einem jungen Mann das Wesen der Vollkommenheit.
3. Lehrjahr im Oktober nach dem Laubhüttenfest westlich von Emmaus
(aus Kap.568, 4 S.)
Jesus ist noch in den Bergen.
Außer den Aposteln und Jüngern folgt ihm viel Volk. (...) Ein Jüngling löst sich aus der Menge,
holt den Meister ein und grüßt ihn ehrfurchtsvoll. Jesus
erwidert den Gruß.
«Ich möchte dich etwas fragen,
Meister.»
«Sprich.»
«Ich habe dir zufällig einmal – es
war an einem Morgen nach dem Passahfest – bei den Schluchten von Kerith zugehört.
Seitdem habe ich mir gedacht... daß auch ich einer von denen sein könnte, die
du berufst. Aber zuvor wollte ich genau wissen, was man tun muß und was man
nicht tun darf, und jedesmal, wenn ich deine Jünger getroffen habe, habe ich
sie befragt. Der eine sagte dies, der andere das. Und ich war verwirrt, fast
erschreckt, denn in einem stimmten sie alle mit mehr oder weniger Strenge
überein, nämlich in der Verpflichtung, vollkommen zu werden... Ich bin aber ein
armer Mensch, Herr, und vollkommen ist nur Gott... Ich habe dich ein zweites
Mal gehört, und da hast du selbst gesagt: "Seid vollkommen." Das hat
mich entmutigt. Ein drittes Mal habe ich dich vor wenigen Tagen im Tempel
gehört. Und so streng du auch warst, schien es mir doch nicht mehr ganz unmöglich,
vollkommen zu werden, denn... Ich weiß nicht einmal warum, wie ich es mir
erklären soll und wie ich es dir erklären soll. Aber ich dachte mir, wenn es
unmöglich oder gar gefährlich wäre, es werden zu wollen, da es ja fast
bedeutet, Gott gleichen zu wollen, dann hättest du, der du uns retten willst,
es nicht von uns verlangt. Denn Anmaßung ist Sünde, und Gott gleich sein zu
wollen, ist die Sünde Luzifers... Aber vielleicht gibt es eine Art es zu
werden, ohne dabei zu sündigen. Gewiß muß man dazu deine Lehre befolgen, die
uns zum Heil gereicht. Ist das richtig?»
«Sehr richtig. Und dann?»
«Dann habe ich weiterhin diesen
und jenen befragt, und als ich erfuhr, daß du in Rama bist, bin ich
hingegangen. Seither bin ich dir, mit Erlaubnis meines Vaters, gefolgt. Sieh,
ich würde dir gern immer weiter folgen...»
«So komm. Was fürchtest du?»
«Ich weiß nicht... Ich weiß es
selbst nicht... Ich frage und frage... Aber immer wenn ich dich höre, scheint
es mir leicht zu sein, und ich entschließe mich zu kommen; und wenn ich dann
später über deine Worte nachdenke, oder noch schlimmer, wenn ich den einen oder
anderen nach seiner Meinung frage, scheint es mir zu schwer zu sein.»
«Ich sage dir, woher das kommt: es
ist eine Nachstellung des Teufels, der dich davon abhalten will, zu mir zu
kommen. Er erschreckt dich mit Trugbildern und verwirrt dich. Er läßt dich
Leute fragen, die selbst, wie du, des Lichtes bedürfen... Warum bist du nicht
direkt zu mir gekommen?»
«Weil... ich hatte zwar keine
Furcht, aber... Unsere Priester und Rabbis sind so hart und hochmütig! Und
du... Ich wagte es nicht, mich dir zu nähern. Aber gestern in Emmaus! ... Oh,
ich glaube verstanden zu haben, daß ich keine Angst zu haben brauche. Und jetzt
bin ich hier, um dich zu fragen, was ich wissen will. Einer deiner Apostel hat
mir kürzlich gesagt: "Geh und fürchte dich nicht. Er ist gut, auch zu den
Sündern." Und ein anderer: "Mach ihn glücklich durch dein Vertrauen.
Wer Vertrauen in ihn hat, der findet ihn sanfter als eine Mutter." Wieder
ein anderer: "Ich weiß nicht, ob ich mich irre, aber ich glaube, daß er
dir sagen wird, daß die Vollkommenheit in der Liebe ist." Sieh, so haben
deine Apostel gesprochen, einige wenigstens, die sanftesten unter deinen
Jüngern. Aber nicht alle; denn unter den Aposteln sind einige, die ein Echo
deiner Stimme zu sein scheinen; aber es sind deren zu wenige... Einige sind
darunter, die einem armen Menschen wie mir Furcht einflößen. Einer hat mir mit
einem unschönen Lächeln gesagt: "Du willst vollkommen werden? Nicht einmal
wir, seine Apostel, sind es, und du willst es sein? Das ist unmöglich."
Wenn ich nicht mit den anderen gesprochen hätte, wäre ich ganz entmutigt
geflohen. Aber jetzt mache ich den letzten Versuch... und wenn auch du mir
sagst, daß es unmöglich ist, dann...»
«Mein Sohn, kann ich gekommen
sein, um den Menschen Unmögliches aufzutragen? Wer, glaubst du, hat in dein
Herz dieses Verlangen nach Vollkommenheit gelegt? Dein eigenes Herz?»
«Nein, Herr. Ich denke, daß du es
mit deinen Worten gewesen bist.»
«Du bist nicht weit von der
Wahrheit entfernt. Aber antworte mir weiter. Was für Worte sind meine Worte für
dich?»
«Gerechte Worte.»
«Nun gut. Aber ich will sagen:
Waren es Menschenworte oder mehr als Menschenworte?»
«Oh, du sprichst wie die Weisheit
selbst, und noch viel sanfter und klarer. Ich sage daher, daß deine Worte mehr
sind als Menschenworte, und glaube mich nicht zu irren, wenn ich das richtig
verstanden habe, was du im Tempel gesagt hast. Denn es schien mir, du hättest
damals gesagt, daß du das Wort Gottes selbst bist und daß daher Gott aus dir
spricht.»
«Du hast es richtig verstanden und
gut gesagt. Nun also, wer hat dir das Verlangen nach Vollkommenheit ins Herz
gelegt?»
«Gott hat es mir gegeben durch
dich, sein Wort.»
«Also ist Gott es gewesen. Nun
überlege: Wenn Gott, der die Fähigkeiten der Menschen kennt, euch sagt:
"Kommt zu mir und seid vollkommen!", so heißt das, daß der Mensch,
wenn er will, es auch werden kann. Es ist ein uraltes Wort und erging zum
ersten Mal an Abraham als eine Offenbarung, ein Befehl, eine Einladung:
"Ich bin Gott, der Allmächtige. Wandle in meiner Gegenwart. Sei
vollkommen." Gott offenbart sich, damit der Patriarch nicht zweifle an der
Heiligkeit des Befehls und an der Echtheit der Einladung. Er befiehlt ihm, in
seiner Gegenwart zu wandeln, denn wer in der Überzeugung lebt, im Angesicht
Gottes zu wandeln, der begeht keine schlechte Tat und wird somit imstande sein,
vollkommen zu werden, wie Gott es von ihm verlangt.»
«Das ist wahr! Das ist wirklich
wahr! Wenn Gott es verlangt hat, so deshalb, weil man es tun kann. Oh, Meister!
Wie ist doch alles so gut verständlich, wenn du sprichst! Warum aber malen uns
dann deine Jünger und auch dieser Apostel ein so furchterregendes Bild von der
Heiligkeit? Halten sie vielleicht diese Worte und auch die deinen nicht für
wahr? Oder verstehen sie nicht in der Gegenwart Gottes zu wandeln?»
«Denke nicht an das was ist, und
urteile nicht. Schau, mein Sohn 1 Gerade ihr Verlangen, vollkommen zu sein, und
ihre Demut flößen ihnen vielleicht bisweilen die Furcht ein, es nie werden zu
können.»
«Aber sind denn das Verlangen nach
Vollkommenheit und die Demut dem Streben nach Vollkommenheit hinderlich?»
«Nein, mein Sohn, das Verlangen
danach und die Demut sind keine Hindernisse. Man muß sich vielmehr recht tief davon
durchdringen lassen, aber in geordneter Weise. Und das ist dann der Fall, wenn
es nicht verbunden ist mit unbesonnener Hast, mit unbegründeter
Niedergeschlagenheit, Zweifeln und Mißtrauen, die uns z.B. glauben lassen, der
Mensch sei angesichts seiner Unvollkommenheit nicht fähig, vollkommen zu
werden. Alle Tugenden sind notwendig, insbesonders der lebhafte Wunsch, ein
Gerechter zu werden.»
«Ja, das haben mir auch die
gesagt, die ich befragt habe. Sie sagten mir, daß es notwendig sei, Tugenden zu
besitzen. Jedoch bezeichnete mir der eine diese der andere jene als besonders
notwendig. Alle betonten die absolute Notwendigkeit, die zu besitzen, die sie
für die wichtigste hielten, um heilig zu werden. Und das hat mich verängstigt.
Denn wie kann man alle Tugenden in vollkommener Weise besitzen, sie alle
zusammen aufblühen lassen wie einen Strauß verschiedener Blumen? Dazu braucht
es Zeit... und das Leben ist so kurz. Meister, erkläre mir du, welche Tugend
unentbehrlich ist.»
«Es ist die Liebe. Wenn du liebst,
wirst du heilig sein, denn der Liebe zum Allerhöchsten und zum Nächsten
entspringen alle Tugenden und guten Werke.»
«Ja? So erscheint mir alles viel
leichter. Die Heiligkeit ist also Liebe. Wenn ich die Liebe habe, habe ich
alles... Darin besteht die Heiligkeit.»
«Aus dieser und aus den anderen
Tugenden. Denn die Heiligkeit bedeutet nicht, nur demütig, nur klug oder nur
keusch usw. zu sein, sondern man muß tugendhaft sein. Sieh, mein Sohn, wenn ein
Reicher ein Gastmahl geben will, läßt er dann nur eine einzige Speise
auftischen? Weiter: Wenn jemand einen Blumenstrauß binden will, um einen
anderen zu ehren, nimmt er dann etwa nur eine einzige Blume? Nein, nicht wahr?
Denn wenn er von derselben Speise auch noch so viele Schüsseln auf die Tische
stellen würde, würden die Geladenen ihn für einen unfähigen Gastgeber halten,
der nur darum besorgt ist zu zeigen, daß er viel einkaufen kann, nicht aber das
Taktgefühl besitzt, auf den unterschiedlichen Geschmack seiner Gäste einzugehen
und sie nicht nur mit reichlicher Speise zu sättigen, sondern sie überdies zu
erfreuen. Dasselbe gilt für den Blumenstrauß. Eine einzige Blume, und sei sie
auch noch so groß, ist noch kein Blumenstrauß. Viele Blumen zusammen bilden
ihn, und die verschiedenen Farben und Düfte ergötzen das Auge und den
Geruchsinn und lassen uns den Herrn loben. Die Heiligkeit, die wir betrachten
sollen als einen Blumenstrauß, den wir dem Herrn anbieten, muß aus allen
Tugenden zusammengesetzt sein. In der einen Seele wird die Demut vorherrschen,
in der anderen der Starkmut, wieder in einer anderen der Opfergeist oder die
Bußgesinnung, alles Blumen, die im
Schatten der königlichen, duftenden Pflanze der Liebe, deren Blüten stets im
Strauß vorherrschen werden, aufgesprossen sind, aber alle Tugenden zusammen stellen
erst die Heiligkeit dar.»
«Und welche Tugend muß mit
besonderer Sorgfalt gepflegt werden?»
«Die Liebe. Ich habe es dir schon
gesagt.»
«Und dann?»
«Es gibt keine besondere Methode,
mein Sohn. Wenn du den Herrn liebst, wird er dir seine Gaben schenken, d.h. er
wird sich dir mitteilen, und dann werden die Tugenden, in denen du dich zu
festigen suchst, unter der Sonne der Gnade heranwachsen.»
«Mit anderen Worten: Es ist Gott,
der in der liebenden Seele hauptsächlich wirkt?»
«Ja, mein Sohn. Gott ist es, der
hauptsächlich wirkt und es dabei dem Menschen überläßt, seinerseits mit seinem
freien Willen nach der Vollkommenheit zu streben und sich zu bemühen, den
Versuchungen zu widerstehen, um seinem Vorsatz treu zu bleiben im Kampf gegen
das Fleisch, die Welt und den Teufel, die ihn angreifen. Das geschieht, damit
sein Sohn eigene Verdienste erwirbt auf dem Weg zur Heiligkeit.»
«Ah! Also ist es sehr richtig zu
sagen, daß der Mensch geschaffen ist, um vollkommen zu sein, wie Gott es will.
Danke, Meister. Jetzt weiß ich es, nun werde ich handeln. Du aber bete für
mich.»
«Ich werde dich in meinem Herzen
bewahren. Geh und fürchte nicht, daß Gott dich ohne Hilfe lassen könnte.»
Der Jüngling verabschiedet sich zufrieden von Jesus...