HEILUNG DES GELÄHMTEN IM HAUSE PETRI IN KAPHARNAUM

Kap.99

Ich sehe die Ufer des Sees Genesareth. Ich sehe die ans Land gezogenen Boote der Fischer. An sie gelehnt, sind Petrus und Andreas damit beschäftigt, die Netze auszubessern, die ihnen die Helfer triefend übergeben, nachdem sie sie im See von den Anhängseln gereinigt haben. In einer Entfernung von zehn Metern sind Johannes und Jakobus über ihr Boot gebeugt und damit beschäftigt, alles in Ordnung zu bringen, wobei ihnen ein Junge und ein ungefähr fünfzigjähriger Mann helfen, den ich für Zebedäus halte, weil der Junge ihn "Meister" nennt und er dem Jakobus sehr ähnlich sieht.

Petrus und Andreas, mit den Schultern an das Boot gelehnt, arbeiten schweigend daran, die Netzfäden und die Signalkorken auszubessern. Nur ab und zu wechseln sie einige Worte über ihre Arbeit, die, wie ich vermute, vergeblich war.

Petrus ärgert sich nicht wegen der leeren Geldbörse oder der unbelohnten Mühe; er sagt: «Es tut mir leid... was werden wir tun, um diesen Armen Nahrung zu geben? Wir bekommen nur selten Spenden, und diese zehn Denare und sieben Drachmen, die wir in diesen vier Tagen gesammelt haben, werde ich nicht anrühren. Nur der Meister soll bestimmen, wann und wie diese Münzen verwendet werden sollen. Und bis zum Sabbat ist er nicht da. Hätte ich einen guten Fang gehabt! Auch die kleinsten Fische hätte ich zubereitet und sie dann den Armen gegeben; und wenn einer im Hause deswegen gemurrt hätte, dann hätte ich mir nichts daraus gemacht. Die Gesunden können sich selbst helfen, doch die Kranken!»

«Der arme Gelähmte... sie haben ihn auf einem weiten Weg mühsam hierhergebracht...» sagt Andreas.

«Höre, Bruder! Ich meine, wir sollten nicht so getrennt bleiben... Ich weiß nicht, warum uns der Meister nicht immer bei sich haben will. Wenigstens hätte ich nicht immer die Armen vor Augen, denen ich nicht helfen kann... und wenn ich sie dann sähe, könnte ich ihnen sagen: "Er ist da!"»

«Hier bin ich!» Jesus hat sich auf dem weichen Sande lautlos genähert.

Petrus und Andreas machen einen Freudensprung und rufen aus: «Oh, Meister!» Und zu ihren Freunden: «Jakobus, Johannes, der Meister ist da, kommt!»

Die beiden kommen herbei, und alle drängen sich um Jesus.

«Worüber habt ihr gesprochen?»

«Meister, wir sprachen darüber, wie nötig wir dich haben.»

«Warum, Freunde?»

«Um dich sehen und lieben zu können, und dann auch der Armen und Kranken wegen. Seit zwei und mehr Tagen warten sie auf dich. Ich habe getan, was ich konnte. Ich habe sie dorthin gebracht. Siehst du die Hütte auf dem brachen Feld? Dort machen die Schiffshandwerker ihre Reparaturen. Ich habe dorthin auch einen Gelähmten gebracht, der hohes Fieber hat, und ein Kind, das an der Brust seiner Mutter stirbt. Ich konnte sie nicht fortschicken, dich zu suchen.»

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«Du hast gut getan. Doch wie konntest du ihnen helfen, und wer hat sie hergebracht? Du sagtest doch, daß es Arme sind.»

«Gewiß, Meister; denn die Reichen haben Wagen und Pferde, die Armen aber nur ihre Beine. Sie hätten dir nicht nacheilen können. Ich tat, was ich konnte. Schau, das ist die Spende, die ich bekommen habe. Ich habe nichts davon angerührt. Das ist deine Sache.»

«Petrus, du hättest es gleichwohl tun können. Gewiß... Mein Petrus, es tut mir leid, daß du meinetwegen gescholten wirst und Mühen hast.»

«Nein, Meister, darüber mache dir keine Sorgen! Mir macht es nichts aus. Nur, daß ich nicht mehr Barmherzigkeit üben konnte, bedauere ich. Doch glaube mir, ich habe, wir alle haben getan, was wir konnten.»

«Ich weiß es; ich weiß auch, daß du vergeblich gearbeitet hast. Doch wenn auch keine Nahrung da ist, die Nächstenliebe bleibt: die lebendige und aktive Nächstenliebe, die in den Augen Gottes heilig ist.»

Kinder kommen schreiend daher: «Der Meister ist da, der Meister ist da! Jesus ist gekommen, Jesus ist gekommen!» und sie schmiegen sich an ihn, der sie liebkost, während er gleichzeitig mit den Jüngern spricht: «Simon, ich gehe in dein Haus. Du und ihr anderen geht und verkündet, daß ich gekommen bin, und dann bringt mir die Kranken!»

Die Jünger eilen in alle Richtungen fort. Doch ganz Kapharnaum weiß bereits, daß Jesus angekommen ist. Die Kinder haben dafür gesorgt: wie Bienen aus dem Bienenstock zu den verschiedenen Blumen, so sind sie in die Häuser, auf die Straßen und Plätze "geflogen". Freudig überbringen sie die Botschaft den Müttern, den Reisenden, den Alten, die an der Sonne sitzen, und kommen zurück, um sich nochmals liebkosen zu lassen von ihm, der sie liebt; und ein mutiges Kind sagt: «Sprich heute zu uns und für uns, Jesus! Wir lieben dich sehr, weißt du, und wir sind besser als die Erwachsenen.»

Jesus lächelt dem kleinen Psychologen zu und verspricht: «Ich werde zu euch sprechen.» Und von den Kindern gefolgt, geht er zum Hause und betritt es mit seinem üblichen Gruß: «Der Friede sei in diesem Hause!»

Die Menschen versammeln sich im großen Raum, der für die Segel, Netze, Körbe und Vorräte bestimmt ist. Man sieht, daß Petrus alles für Jesus vorbereitet und die Dinge in eine Ecke gebracht hat. Er ist vollgestopft mit Leuten; wer keinen Platz gefunden hat, steht im Garten oder auf der Straße.

Jesus beginnt zu reden. In der ersten Reihe befinden sich fünf hochgestellte Personen, die sich herrschsüchtig breitgemacht haben, gestützt auf die Ehrfurcht, welche die Bevölkerung ihnen bezeugt. Ihr Verhalten, die vornehme Kleidung und ihr Hochmut lassen sie als Pharisäer und Schriftgelehrte erkennen. Jesus möchte jedoch seine Kinder um sich haben. Einen Kranz unschuldiger Gesichtlein mit engelgleichem Lächeln und leuchtenden Augen, die zu ihm aufschauen. Jesus spricht, und von Zeit zu Zeit streichelt er im Reden das eine oder andere lockige Köpfchen eines Kindes, das sich zu seinen Füßen niedergesetzt hat und den Kopf an sein Knie lehnt. Jesus sitzt auf einem großen Haufen von Netzen und Körben.

«"Mein Geliebter ist in seinen Garten gegangen, zu den Balsambeeten, um sich an den Pflanzen zu erfreuen und Lilien zu pflücken... Hirte ist er auf Liliengefilden", (HI 6,2), so spricht Salomon, der Sohn Davids, von dem ich abstamme, ich, der Messias Israels.

Mein Garten! Welcher Garten ist schöner und Gottes würdiger als der Himmel, in dem die vom Vater erschaffenen Engel die Blumen sind? Aber der einzige eingeborene Sohn des Vaters, der Menschensohn, wollte einen anderen Garten; denn für den Menschen habe ich Fleisch angenommen, ohne welches ich die Schuld der Menschen nicht tilgen könnte. Ein Garten, der nur wenig unter dem himmlischen stehen würde, wenn die Söhne Adams, die ganz für den Himmel bestimmt waren, die Kinder Gottes, sich wie sanfte Bienen aus dem Bienenkorbe entfernt hätten, um die Erde mit Heiligkeit zu bevölkern. Doch der Feind hat Verwirrung und Dornen in das Herz Adams gesät, und Unkraut und Dornen aus diesem Herzen haben die Erde überwuchert. Kein Garten ist sie mehr, nur dürre Wüste und Wildnis, in welcher das Fieber schwelt und die Schlangen nisten.

Doch der Erwählte des Vaters hat noch einen Garten auf dieser Erde, auf welcher Satan herrscht. In diesen Garten geht er, um sich an seiner himmlischen Nahrung zu weiden: der Liebe und der Reinheit; und aus diesem Beet pflückt er die geliebten Blumen, in denen keine Sinneslust, keine Unreinheit und kein Hochmut ist: die Kleinen! (Jesus liebkost viele Kinder, die aufleuchten und freudvoll ihm zulächeln.) Dies sind meine Lilien!

Salomon in seinem Reichtum hatte kein Gewand, das schöner war als die Lilie im duftenden Felde, und kein Diadem von solch köstlicher, herrlicher Anmut wie das der Lilie mit ihrem Perlenkelch. Doch meinem Herzen ist keine Lilie kostbarer als diese Kleinen. Es gibt kein Blumenbeet, keinen Garten der Reichen voll edler Lilien, der mir wertvoller wäre als ein einziges dieser reinen, unschuldigen, aufrichtigen, einfachen Kinder.

O ihr Frauen und Männer Israels! O ihr Großen und Schlichten, was Vermögen und Stellung betrifft, hört! Ihr seid hier, um mich kennen und lieben zu lernen. So sollt ihr nun erfahren, welches die erste Bedingung ist, um mir anzugehören. Ich sage euch keine schwierigen Worte, noch gebe ich euch schwierige Vorbilder. Ich sage nur: "Nehmt diese Kinder zum Vorbild!"

Wer von euch hat nicht einen Sohn, einen Enkel oder einen Bruder im Kindesalter im Hause? Ist ein solches Kind nicht eine Erholung, ein Trost, ein Band zwischen Eltern, Verwandten, Freunden; ein Kind, dessen Seele rein ist wie ein schöner Morgen, dessen Gesichtlein die Wolken vertreibt und Hoffnungen weckt, dessen Liebkosungen die Tränen trocknen und Lebenskraft einflößen? Warum ist in ihnen eine solche Macht? In ihnen, die schwach, unreif und unwissend sind? Weil in ihnen Gott wohnt, die Kraft und die Weisheit Gottes! Die wahre Weisheit: sie können lieben und glauben. Sie können glauben und wollen. Sie verstehen es, in dieser Liebe und in diesem Glauben zu leben. Seid also wie sie: einfach, rein, liebevoll, aufrichtig und gläubig!

Es gibt keinen Weisen in Israel, der größer wäre als der Kleinste von diesen, dessen Seele Gott gehört und ihr das Reich Gottes. Gesegnete des Vaters, Geliebte des Sohnes, Blumen meines Gartens, mein Friede sei über euch und über allen, die euch aus Liebe zu mir nachahmen!»

Jesus hat geendet.

«Meister», ruft Petrus von der anderen Seite, «hier sind die Kranken. Zwei können warten, bis du hinausgehst; aber hier ist einer eingekeilt in der Menge und hält nicht mehr stand. Wir können nicht durchkommen. Soll ich ihn fortschicken?»

«Nein, laßt ihn durch das Dach herab.»

«Gut gesagt; wir werden es sofort tun.»

Man hört auf dem niederen Dach über dem Saale herumtrampeln. Da dieser Raum nicht zum eigentlichen Wohnhause gehört, hat er keine zementierte Terrasse, sondern ist nur mit schieferähnlichen Platten bedeckt. Es entsteht nun eine Öffnung, und mittels Seilen wird die Bahre mit dem Kranken hinuntergelassen. Sie wird direkt vor Jesus niedergestellt. Die Menschen drängen sich näher, um besser zu sehen.

«Du hast einen großen Glauben gehabt, wie auch jene, die dich hierhergebracht haben.»

«O Jesus, wie sollten wir nicht an dich glauben?»

«Nun wohl, so sage ich dir, Sohn (der Mann ist noch jung), alle deine Sünden sind dir vergeben.»

Der Mann schaut Jesus weinend an... vielleicht ist er enttäuscht, weil er auf eine leibliche Heilung hoffte. Die Pharisäer und die Schriftgelehrten flüstern miteinander, rümpfen die Nase und verziehen Stirne und Mund mit Verachtung.

«Warum murrt ihr in euren Herzen mehr noch als mit den Lippen? Was ist nach eurer Meinung leichter, dem Gelähmten zu sagen: "die Sünden sind dir vergeben" oder "steh auf, nimm dein Bett und geh"? Ihr denkt, daß nur Gott Sünden vergeben kann. Doch ihr könnt nicht beantworten, was größer ist, weil der Mann da, dessen ganzer Körper krank ist, all sein Vermögen aufgewendet hat, ohne geheilt worden zu sein. Nur Gott kann ihn heilen. Nun, damit ihr wißt, daß ich alles vermag, damit ihr erkennt, daß der Menschensohn Macht über Leib und Seele, über Himmel und Erde hat, sage ich zu diesem Mann: "Steh auf, nimm dein Bett und geh! Geh nach Hause und sei heilig!"»

Den Mann erfaßt ein Schütteln, er schreit auf, erhebt sich und wirft sich Jesus zu Füßen, küßt sie, weint und lacht gleichzeitig, und mit ihm die Angehörigen und die Menschenmenge, die nun einen Weg freigibt, um ihn wie im Triumph durchzulassen. Jubelnd folgt ihm das Volk, aber ohne die fünf Grollenden, die überheblich weggehen.

So kann nun die Mutter mit dem Säugling, der zum Skelett abgemagert ist, bis zu Jesus gelangen. Sie zeigt ihn ihm und sagt nur: «Jesus, du liebst sie, die Kinder. Du selbst hast es gesagt. Um dieser Liebe und um deiner Mutter willen! ...» und sie weint.

Jesus nimmt ihn, den sterbenden Säugling, drückt ihn an sein Herz und hält sein wächsernes Gesichtlein mit den violetten Lippen und den schon gesenkten Lidern an seinen Mund, einen Augenblick nur... und als er es von seinem blonden Bart wegnimmt, ist das Gesichtlein rosig, und das Mündlein umspielt ein seliges Lächeln; die Augen schauen lebhaft und neugierig um sich, und das Kind greift mit den zuvor verkrampften Händchen in die Haare und in den Bart Jesu, der dazu lacht.

«O mein Sohn!» ruft die selige Mutter aus.

«Nimm es, Frau, sei glücklich und gut!»

Die Frau nimmt das Wiedergeborene und drückt es an ihre Brust, und das Kleine macht sofort seinen Anspruch auf Nahrung geltend; es sucht die Brust, enthüllt sie und trinkt, trinkt gierig und glücklich...

Jesus segnet und geht weiter, bis zur Schwelle, wo der Fieberkranke wartet.

«Meister, sei gut!»

«Auch du! Nütze deine wiedererlangten Kräfte in der Gerechtigkeit!»Er streichelt ihn liebevoll und geht hinaus.

 

 

 

 

 

 

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