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JESUS
LEHRT DAS VATERUNSER
Kap 243, zweites Lehrjahr, nach dem Osterfest
Jesus geht mit den Aposteln auf den Ölberg hinauf, um sie das
Vaterunser zu lehren. Judas Iskariot ist nicht dabei. Für den Leser wertvoll
ist die Auslegung der Vaterunser Bitten.
(…)
«Gehen wir nach
Gethsemane?» fragt Jakobus des Alphäus.
«Nein, höher, auf
den Ölberg.»
Sie steigen zwischen
den Ölbäumen hinauf, lassen Gethsemane zu ihrer Rechten und gehen weiter bis
zum Gipfel, auf dem die Ölbäume einen rauschenden Kamm bilden.
Jesus bleibt stehen
und sagt: «Machen wir etwas halt, meine teuren und lieben Jünger, meine
künftigen Nachfolger. Kommt in meine Nähe! Mehrmals habt ihr mir gesagt:
"Lehre uns, zu beten, wie du betest. Lehre uns, wie Johannes der Täufer
die Seinen gelehrt hat, damit wir Jünger mit den Worten des Meisters beten
können." Ich habe euch stets geantwortet: "Ich werde es tun, sobald
ich in euch ein Mindestmaß an notwendiger Vorbereitung sehe, damit dieses Gebet
keine leere Formel menschlicher Wörter sei, sondern wahres Gespräch mit dem
Vater." Jetzt ist die Zeit gekommen. Ihr seid genügend vorbereitet, um die
Worte zu kennen, die würdig sind, zu Gott gesagt zu werden. Und ich will sie
euch heute abend lehren, im Frieden und in der Liebe, die zwischen uns
herrschen; im Frieden und in der Liebe Gottes und mit Gott, denn wir haben als
echte Israeliten das Ostergebot und das göttliche Gebot der Liebe zu Gott und
dem Nächsten befolgt.
(…)
«Hört. Wenn ihr
betet, sprecht so: "Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde
dein Name. Dein Reich komme auf Erden wie im Himmel, und auf Erden wie im Himmel
geschehe dein Wille. Gib uns heute unser tägliches Brot, vergib uns unsere
Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern, und führe uns nicht in
Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen."»
Jesus hat sich
erhoben, um das Gebet zu sprechen, und alle haben es ihm nachgetan, aufmerksam
und bewegt.
«Anderes braucht es
nicht, meine Freunde. In diesen Worten ist alles, was der Mensch für die Seele,
den Leib und das Blut benötigt wie in einem goldenen Ring eingeschlossen. Mit diesem
Gebet bittet um das, was dem einen und den anderen nützlich ist; wenn ihr darum
bittet, werdet ihr das ewige Leben erlangen. Es ist ein so vollkommenes Gebet,
daß die Wellen der Häretiker und der Lauf der Jahrhunderte es nicht zu ändern
imstande sind. Das Christentum wird vom Biß Satans zerstückelt werden, und
viele Teile meines mystischen Leibes werden zerrissen und abgetrennt, eigene
Zellen bilden, im vergeblichen Verlangen, einen vollkommenen Leib zu gestalten,
wie es der mystische Leib Christi ist, in welchen alle Gläubigen in der
apostolischen Kirche vereint sind und in der alleinigen wahren Kirche, die
bestehen wird, so lange die Erde besteht! Aber die abgetrennten Teilchen, denen
die Gaben nicht zukommen, die ich der Mutterkirche schenke, um meine Kinder zu
nähren, werden sich immer christlich nennen und sich dessen erinnern, daß sie
auf Christus zurückzuführen sind. Auch sie werden dieses universelle Gebet
beten. Vergeßt es nie und denkt stets darüber nach. Wendet es auf euer Wirken
an. Es braucht nichts anderes für die Heiligung. Wenn einer allein unter
Heiden, ohne Kirche und ohne Bücher wäre, hätte er alles, was zur Betrachtung
erforderlich ist, in diesem Gebet, und eine offene Kirche in seinem Herzen
durch dieses Gebet. Er hätte eine Regel und ein sicheres Mittel, sich zu
heiligen.
"Vater unser"
Ich nenne ihn Vater.
Er ist der Vater des Wortes. Er ist der Vater des Menschgewordenen. Daher will
ich, daß auch ihr ihn so nennt; denn ihr seid eins mit mir, wenn ihr in mir
bleibt. Es hat eine Zeit gegeben, da mußte der Mensch sein Antlitz zur Erde
werfen und vor Schrecken zitternd flüstern: "Gott!" Wer nicht an mich
und mein Wort glaubt, befindet sich immer noch in dieser lähmenden Angst.
Beobachtet, was im Tempel geschieht. Nicht nur Gott, sondern sogar die
Erinnerung an Gott ist hinter dem dreifachen Schleier den Augen der Menschen
verborgen. Trennung durch Entfernung, Trennung durch Verschleierung. Alle
Mittel werden angewandt, um dem Beter zu sagen: "Du bist Staub. Er ist
Licht. Du bist Verworfenheit. Er ist Heiligkeit. Du bist Sklave. Er ist
König."
Aber nun! ... Erhebt
euch! Tretet näher! Ich bin der Ewige Priester. Ich kann euch an der Hand
nehmen und sagen: "Kommt!" Ich kann den Vorhang der Verschleierung
ergreifen und den unbetretbaren Ort öffnen, der bisher verschlossen war.
Verschlossen? Warum? Verschlossen aufgrund der Schuld, ja! Aber noch mehr
verschlossen durch das niedrige Denken der Menschen. Warum aber verschlossen,
wenn Gott die Liebe, der Vater, ist? Ich kann, ich soll und ich will euch nicht
in den Staub treten, sondern ins Himmelsblau ziehen, nicht entfernen, sondern
annähern, nicht ins Gewand der Sklaven kleiden, sondern der Söhne am Herzen
Gottes. "Vater! Vater!" müßt ihr sagen. Ihr dürft nicht müde werden,
dieses Wort zu wiederholen. Wißt ihr denn nicht, daß jedesmal, wenn ihr es
aussprecht, der Himmel wegen der Freude Gottes aufleuchtet? Und wenn ihr nur
das und mit wahrer Liebe sagen würdet, sprächt ihr ein Gott wohlgefälliges
Gebet. "Vater, mein Vater!" sagen die Kinder zu ihrem Vater. Es sind
die ersten Worte, die sie sprechen: "Mutter, Vater." Ihr seid die
Kinder Gottes. Ich habe euch aus dem alten Menschen, der ihr wart, gebildet;
ich habe ihn mit meiner Liebe vernichtet, damit ein neuer Mensch, der Christ,
daraus geboren werde. Ruft also mit dem Wort, das die Kinder als erstes kennen,
den heiligsten Vater an, der im Himmel ist.
"Geheiligt werde dein Name"
Oh! Ein Name, der
mehr als jeder andere heilig und wohlklingend ist. Ein Name, den der Schrecken
des Schuldhaften unter anderen zu verbergen gelehrt hat. Nein, nicht mehr
Adonai! Gott ist es! Gott, der in einem Übermaß an Liebe die Menschen
erschaffen hat. Die Menschheit ruft ihn von nun an bei seinem Namen, mit den
Lippen, die gereinigt sind im Bad, das ich bereite; sie nennt ihn mit seinem
Namen in der Erwartung, die wahre Bedeutung des Unbegreiflichen in der Fülle
der Weisheit verstehen zu lernen, wenn die Menschheit in ihren besten Söhnen
mit Ihm vereint und angenommen wird im Reiche, das zu gründen ich gekommen bin.
"Dein Reich komme auf Erden wie im Himmel"
Ersehnt mit all euren Kräften diese Ankunft. Es wäre die Seligkeit auf
Erden, wenn es käme: das Reich Gottes in den Herzen, in den Familien, in den
Bürgern und den Nationen. Leidet, bemüht euch, opfert euch auch für dieses
Reich. Die Erde soll in den Einzelnen ein Spiegelbild des Lebens in den Himmeln
sein. Es wird kommen. Eines Tages wird alles kommen. Jahrhunderte um
Jahrhunderte der Tränen und des Blutes, der Irrtümer, der Verfolgungen, der
Trümmer und des Nebels, in dem das Licht des mystischen Leuchtturms meiner
Kirche leuchtet, werden vergehen. Aber das Schiff der Kirche wird nicht
untergehen. Wie ein unerschütterlicher Fels wird sie jedem Angriff standhalten
und das Licht hochhalten, mein Licht, das Licht Gottes. Erst danach wird die
Erde das Reich Gottes besitzen. Es wird kommen, das Reich! Und es wird ein
vollkommenes Reich sein, das selige, ewige Reich des Himmels.
"Und auf Erden wie im Himmel geschehe dein Wille"
Das Aufgeben des
eigenen Willens in einen anderen kann erst vollzogen werden, wenn die
vollkommene Liebe das Geschöpf erreicht. Das Sich Auflösen des eigenen Willens
im Willen Gottes kann nur erfolgen, wenn man die theologischen Tugenden in
heroischer Weise besitzt. Im Himmel, wo alles makellos ist, gilt nur der Wille
Gottes. Versteht es, ihr Kinder des Himmels, das zu
tun, was im Himmel getan wird!
"Gib uns unser tägliches Brot"
Wenn ihr im Himmel
seid, werdet ihr euch nur in Gott nähren. Die Seligkeit wird eure Nahrung sein.
Aber hier habt ihr noch Brot nötig. Ihr seid die Kinder Gottes. Es ist daher
richtig, zu bitten: "Vater, gib uns Brot." Habt ihr Angst, nicht
erhört zu werden? O nein. Überlegt: Wenn einer von euch einen Freund hat und
bemerkt, daß er kein Brot hat, um einen anderen Freund oder Verwandten, der am
Ende der zweiten Nachtwache zu ihm kommt, zu sättigen, dann geht er zum ersten
und sagt: "Freund, leihe mir drei Brote, denn es ist ein Gast gekommen und
ich habe nichts zu essen im Haus." Wird er je die Antwort hören müssen: "Störe
mich nicht, ich habe die Türe schon geschlossen und den Riegel vorgelegt, und
meine Kinder schlafen schon an meiner Seite. Ich kann nicht aufstehen und dir
geben, was du verlangst?" Nein. Wenn er sich an einen wahren Freund
gewandt hat und weiter bittet, wird er bekommen, was er verlangt. Er würde es
auch bekommen, wenn er sich an keinen besonders guten Freund gewandt hätte. Er
bekäme es schon wegen seines Drängens; denn der um diesen Gefallen Ersuchte
würde dem Drängen nachgeben, um nicht länger belästigt zu werden.
Ihr aber wendet
euch, wenn ihr den Vater bittet, nicht an einen Freund dieser Erde, sondern an
den vollkommenen Freund, den Vater des Himmels! Daher sage ich euch:
"Bittet, und es wird euch gegeben werden; sucht, und ihr werdet finden;
klopft an, und es wird euch aufgemacht werden." Denn wer bittet, empfängt;
wer sucht, der findet; und wer anklopft, dem wird geöffnet werden. Welches
Menschenkind bekommt einen Stein in die Hand gelegt, wenn es den eigenen Vater
um Brot bittet? Wird der Vater ihm anstelle eines gebratenen Fisches eine
Schlange geben? Ein Vater, der die eigenen Kinder so behandelt, wäre ein
Verbrecher. Ich habe es euch schon einmal gesagt, und ich wiederhole es nun, um
in euch die Güte und das Vertrauen zu stärken: wenn also einer, mit gesundem
Verstand, ein Eies anstelle eines Skorpions gibt, mit welch größerer Güte wird
Gott euch geben, um was ihr bittet! Denn er ist gut, während ihr mehr oder
weniger schlecht seid. Bittet also mit demütiger und kindlicher Liebe den Vater
um das tägliche Brot.
"Vergib uns unsere Schuld, wie wir sie unseren
Schuldigern vergeben"
Es gibt materielle
und geistige Schuld. Es gibt auch moralische Schuld. Eine materielle Schuld ist
das Geld oder die Ware, die geliehen ist und darum zurückgegeben werden muß.
Eine moralische Schuld ist die Ehrabschneidung, die nicht wiedergutgemacht
wurde, und erbetene, doch verweigerte Hilfe. Geistige Schuld ist der Gehorsam
gegenüber Gott, der viel verlangt, dem aber nur wenig gegeben wird. Er liebt
uns und muß geliebt werden wie eine Mutter, eine Gattin oder ein Sohn, von
denen man vieles verlangt. Der Egoist will haben, nicht geben. Aber der Egoist
gehört zur Gegenseite des Himmels.
Wir haben Schulden
gegenüber allen. Von Gott bis zum Verwandten, von diesem bis zum Freund, vom Freund
bis zum Nächsten, vom Nächsten bis zum Diener und Sklaven; denn sie alle sind
Geschöpfe, wie wir es sind. Wehe dem, der nicht
verzeiht! Ihm wird nicht vergeben werden. Gott kann – aus Gerechtigkeit – keine
Schuld nachlassen, wenn der Mensch nicht seinesgleichen verzeiht.
"Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von
dem Bösen"
Der Mann (Judas),
der es nicht für nötig hielt, mit uns das Ostermahl zu teilen, hat mich vor
ungefähr einem Jahr gefragt: "Wie? Du hast gebeten, nicht versucht zu werden,
und um Hilfe in den Versuchungen?" Wir beide waren allein; und ich habe
ihm geantwortet. Dann waren wir zu viert an einem einsamen Ufer, und ich habe
noch einmal geantwortet. Doch es war bisher ergebnislos; denn in einen
widerspenstigen Geist muß erst eine Bresche geschlagen und die bösartige
Festung der Starrköpfigkeit zerstört werden. Und darum will ich es noch einmal,
zehnmal, hundertmal sagen, bis alles vollzogen ist.
Aber ihr, die ihr
euch nicht mit unglücklichen Lehren und noch unglücklicheren Leidenschaften
beschäftigt, betet so: Betet mit Demut, daß Gott die Versuchungen verhindere.
Oh, die Demut! Sich als das zu erkennen, was man ist! Ohne darüber zu
verzweifeln, sondern um zu erkennen. Zu sagen: "Ich könnte nachgeben,
obgleich ich keine Lust dazu habe, denn ich bin ein unvollkommener Richter mir
selbst gegenüber. Darum, Vater, halte wenn möglich die Versuchungen von mir
fern, indem du mich so nahe bei dir hältst, daß der Böse keine Möglichkeit hat,
mir zu schaden." Denn, erinnert euch daran, es ist nicht Gott, der zum
Bösen versucht, sondern es ist der Böse, der versucht. Bittet den Vater, daß er
euch in eurer Schwäche unterstütze, um nicht den Versuchungen des Bösen zu
unterliegen!
Ich habe gesprochen,
meine Auserwählten! Ich feiere mein zweites Ostern mit euch. Letztes Jahr haben
wir nur das Brot und das Lamm miteinander geteilt. Dieses Jahr schenke ich euch
das Gebet. Andere Gaben werde ich bei den kommenden Osterfesten mit euch
teilen, damit ihr, wenn ich dorthin gegangen bin, wo der Vater es will, ein
Andenken an mich, das Lamm, an jedem Fest des mosaischen Lammes besitzt.»
Sie steigen nach
Gethsemane hinab und begeben sich ins Haus zur Ruhe.