UNTERREDUNG MIT EINEM SCHRIFTGELEHRTEN

Kap.314 (1. Lehrjahr, Sommer)

Als Jesus seinen Fuß auf das rechte Ufer des Jordan setzt, eine gute Meile, vielleicht etwas mehr von der kleinen Halbinsel Tarichäa entfernt, dort wo schöne grüne Äcker liegen, weil die Erde in der Tiefe feucht ist und so auch die empfindlichsten Pflanzen am Leben erhält, findet er viel Volk vor, das ihn erwartet. (...)

Jesu Aufenthalt wurde durch eine Unachtsamkeit bekannt und Jesus muß Petrus deswegen beruhigen.

Jesus geht zu der Menge der Kranken, die ihn mit sehnsuchtsvollen Gesichtern erwarten; er heilt einen nach dem anderen, gütig und geduldig auch einem Schriftgelehrten gegenüber, der ihm sein krankes Kind vorstellt.

Dieser Schriftgelehrte sagt ihm: «Siehst du? Du fliehst. Aber es ist unnütz. Haß und Liebe sind klug im Finden. Hier hat dich die Liebe gefunden, wie es im Hohenlied geschrieben steht. Du bist ja schon für viele wie der Bräutigam des Hohenliedes. Und man kommt zu dir, wie Sulamith dem Bräutigam trotz der Runden der Wächter und der Viergespanne des Amminadab entgegengeht.»

«Warum sagst du das? Warum?»

«Weil es wahr ist! Es ist gefahrvoll, zu dir zu kommen, denn du bist verhaßt. Weißt du denn nicht, daß du in der Gunst Roms stehst, und der Tempel dich haßt?»

«Warum versuchst du mich, Mann! Du legst Arglist in deine Worte, um dem Tempel und Rom meine Antworten zu bringen. Ich habe deinen Sohn nicht aus Arglist geheilt...»

Der Schriftgelehrte neigt, durch den sanften Vorwurf verwirrt, das Haupt und bekennt: «Ich sehe, daß du wirklich die Herzen der Menschen kennst. Verzeih... Ich sehe, daß du wirklich heilig bist. Verzeih! Ich bin hierher gekommen, um in mir die Hefe gären zu lassen, die andere in mich gestreut haben...»

«Und die in dir die geeignete Wärme gefunden hat, um aufzugehen.»

«Ja, das ist wahr... Aber jetzt gehe ich ohne Hefe im Herzen weg. Oder besser gesagt, mit einer neuen Hefe.»

«Ich weiß es. Ich trage dir nichts nach. Viele sind durch eigenen Willen schuldig, viele durch den Willen anderer. Und der gerechte Richter wird verschiedene Maßstäbe anlegen, wenn er über sie urteilen wird. Du, Schriftgelehrter, sei gerecht und verführe in Zukunft nicht, wie du verführt worden bist. Wenn die Welt Druck auf dich ausübt, dann betrachte die lebendige Gnade, die dein Sohn ist, der vom Tod errettet wurde, und sei Gott dankbar!»

«Dir!»

«Gott! Ihm gebührt alle Ehre und Preis. Ich bin sein Messias und lobe und preise ihn als erster. Ich gehorche ihm als erster. Denn der Mensch erniedrigt sich nicht, wenn er Gott in Wahrheit verehrt, aber er entwürdigt sich, wenn er der Sünde dient.»

«Du sagst es gut. Sprichst du immer so? Für alle?»

«Für alle! Ob ich zu Annas, zu Gamaliel oder zu einem bettelnden Aussätzigen auf einer Bahre rede, die Worte sind immer dieselben, weil es nur eine Wahrheit gibt.»

«Rede also, da wir alle hier sind, um ein Wort oder eine Gunst von dir zu erbitten.»

«Ich werde reden. Damit man nicht sagen kann, daß ich voreingenommen bin gegen den, der ehrlich in seinen Überzeugungen ist.»

«Die ich gehabt habe, sind schon dahin. Aber es ist wahr, ich war ehrlich in ihnen. Ich glaubte, Gott einen Dienst zu erweisen, als ich dich bekämpfte.»

«Du bist aufrichtig. Und deshalb verdienst du, Gott zu verstehen, der niemals Lüge ist. Doch deine Überzeugungen sind noch nicht gestorben, ich sage es dir. Nur oberflächlich gesehen scheinen sie abgestorben zu sein; denn sie sind wie verbranntes Unkraut, dessen Wurzeln noch leben und vom Erdreich genährt werden. Der Tau lädt sie ein, neue Triebe zu bilden und diese wiederum, neue Blätter. Du mußt darüber wachen, daß dies nicht geschieht, sonst wirst du aufs neue vom Unkraut überwuchert. Israel stirbt sehr schwer.»

«Muß Israel also sterben? Ist es eine schlechte Pflanze?»

«Es muß sterben, um auferstehen zu können.»

«Ein geistige Reinkarnation?»

«Eine geistige Entfaltung! Es gibt keine Reinkarnationen, bei keiner Art.»

«Manche glauben aber daran.»

«Sie sind im Irrtum!»

«Der Hellenismus hat auch in uns einen solchen Glauben aufkommen lassen. Die Gelehrten weiden sich daran und rühmen sich seiner wie einer vornehmen Speise.»

«Es handelt sich um den absurden Widerspruch derer, die den Fluch über jeden aussprechen, der eine der sechshundertdreizehn kleinen Vorschriften übertreten hat.»

«Das ist wahr. Aber... so ist es. Man macht gerne nach, was man doch im Grunde haßt.»

«Dann ahmt mich nach, da ihr mich haßt. Es wird besser für euch sein.»

Der Schriftgelehrte muß notgedrungen über diese Folgerung Jesu lachen. Das Volk steht mit offenem Mund da und hört zu, und die entfernter Stehenden lassen sich von ihren Nachbarn die Worte der beiden wiederholen.

«Aber im Vertrauen gesagt, was hältst du von der Reinkarnation?»

«Ich habe dir schon gesagt, daß es ein Irrtum ist.»

«Manche behaupten, daß die Lebenden aus den Toten hervorgehen und die Toten aus den Lebenden, denn das, was ist, kann nicht vernichtet werden.»

«Was ewig ist, kann nicht vernichtet werden, das ist wahr. Aber sage mir, glaubst du, daß dem Schöpfer selbst Grenzen gesetzt sind .»

«Nein, Meister! Dies anzunehmen hieße, ihn herabsetzen.»

«Du sagst es. Und kann man sich dann vorstellen, daß er die Reinkarnation des Geistes erlaubt, weil er nur eine beschränkte Anzahl von Seelen zur Verfügung hat?»

«Das kann man nicht annehmen. Und doch gibt es Leute, die so denken.»

«Und was noch schlimmer ist: so denkt man auch in Israel. Dieser Gedanke einer Unsterblichkeit des Geistes, der schon bei einem Heiden groß ist, auch wenn er mit dem Irrtum eines ungerechten Werturteils über die Art dieser Unsterblichkeit verbunden ist, sollte bei den Israeliten vollkommen sein. Wer ihn jedoch im heidnischen Sinn auslegt, macht einen geschmälerten, erniedrigenden, schuldhaften Gedanken daraus. Er erniedrigt den Gedanken, der sich als bewundernswürdig erweist, wenn er beim Heiden von sich aus der Wahrheit nahekommt und damit die Zusammensetzung der menschlichen Natur bestätigt, in der Ahnung eines unvergänglichen Lebens, des geheimnisvollen Dings, das den Namen Seele trägt und uns von den Tieren unterscheidet. Es ist eine Erniedrigung des Gedankens, wenn einer die göttliche Weisheit und den wahren Gott kennt und doch in einer so hohen geistigen Angelegenheit Materialist wird. Der Geist wandert nur vom Schöpfer zum Geschöpf und vom Geschöpf zum Schöpfer, zu dem er nach dem Leben zurückkehrt, um von ihm das Urteil über Leben und Tod zu empfangen. Und dort, wo er hingesandt wird, bleibt er ewig. Das ist die Wahrheit!»

«Läßt du das Fegfeuer nicht gelten?»

«Doch. Warum fragst du das?»

«Weil du sagst: "Wohin er gesandt wird, da bleibt er." Der Aufenthalt im Fegfeuer aber ist zeitlich begrenzt.»

«Es gehört in meinen Gedanken schon zum ewigen Leben. Das Fegfeuer ist schon "Leben"! Ohnmächtig, gebunden, aber immerhin Leben. Nach Beendigung des zeitweiligen Aufenthaltes im Fegfeuer erlangt der Geist das vollkommene Leben; er erreicht es ohne Schranken und Bande. Zwei Dinge sind es, die bleiben: der Himmel und der Abgrund, das Paradies und die Hölle. Zwei Arten von Seelen bleiben: die Seligen und die Verdammten. Doch aus den drei Reichen, die nun bestehen, kehrt kein Geist mehr zurück, um Fleisch anzunehmen. Und das bis zur endgültigen Auferstehung, die für immer die Umkleidung der Geister mit dem Fleisch, des Unsterblichen mit dem Sterblichen, abschließen wird.»

«Des Ewigen, nicht wahr?»

«Ewig ist Gott. Ewig sein heißt, weder Anfang noch Ende haben. Und so ist nur Gott. Die Unsterblichkeit ist eine unendliche Fortsetzung des Lebens von dem Augenblick an, da es begonnen hat. Und so ist es mit dem Geist des Menschen. Das ist der Unterschied.»

«Du sagst aber: "Ewiges Leben".»

«Ja. Sobald einer ins Leben gerufen worden ist, kann er durch den Geist, die Gnade und den Willen das ewige Leben erlangen. Nicht die Ewigkeit. Das Leben setzt Anfang voraus. Man sagt nicht: "Das Leben Gottes", denn Gott hat keinen Anfang gehabt.»

«Und du?»

«Ich werde leben, weil ich auch Fleisch bin und die Seele des Christus im menschlichen Fleisch mit dem göttlichen Geist vereint habe.»

«Gott heißt "der Lebendige".»

«Tatsächlich kennt er den Tod nicht. Er ist Leben. Unerschöpfliches Leben. Nicht Leben Gottes! Aber Leben! Nur das! Es sind Feinheiten, o Schriftgelehrter! Aber Weisheit und Wahrheit kleiden sich in Feinheiten.»

«Sprichst du so zu den Heiden?»

«Nein! Sie würden es nicht verstehen. Ich zeige ihnen die Sonne. Aber so, wie ich sie einem Kind zeigen würde, das bis dahin blind und töricht gewesen und nun auf wunderbare Weise sehend und klug geworden ist. Die Sonne als Gestirn, ohne auf ihr Wesen einzugehen. Aber ihr von Israel seid weder blind noch töricht. Seit Jahrhunderten hat der Finger Gottes euch die Augen geöffnet und den Geist geklärt...»

«Das ist wahr, Meister. Und doch sind wir blind und töricht.»

«Ihr habt euch selbst so gemacht und wollt das Wunder dessen nicht, der euch liebt.»

«Meister...»

«Das ist Wahrheit, Schriftgelehrter!»

Dieser senkt das Haupt und schweigt. Jesus läßt ihn stehen und geht weiter, und im Vorübergehen liebkost er Margziam und das Söhnchen des Schriftgelehrten, die zusammen mit bunten Steinchen spielen. Was folgt, die Unterhaltung mit dieser oder jener Gruppe, ist mehr als eine Predigt. Und doch ist es eine ununterbrochene Predigt, denn sie hebt jeden Zweifel auf, klärt jeden Gedanken, faßt zusammen oder erweitert das schon Gesagte und setzt sich mit den verschiedenen Anschauungen auseinander.

 

Erstellt: Mai 2005

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