Das Gleichnis vom verlorenen Schaf

Kap 273

Jesus trägt dieses Gleichnis an einem Bach nahe Kapharnaum vor. Seine Worte richten sich besonders an Maria Magdalena, die von Martha über Ort und Zeit des Auftritts Jesu unterrichtet worden ist. Martha handelt auf Anweisung Jesu, mit dem sie am Vortag ein Gespräch über ihre Schwester geführt hat. Einen Tag später wird Maria Jesus im Haus des Pharisäers Simon (des Aussätzigen) aufsuchen und ihm als Zeichen ihrer Reue die Füße küssen und sie mit ihren Haaren trocknen.

Jesus spricht zur Menge. Er steht am bewaldeten Ufer eines Baches vor einer Volksmenge, die sich auf einem abgemähten Acker, der mit seinen verbrannten Stoppeln einen traurigen Eindruck macht, versammelt hat.

Es ist Abend. Die Dämmerung beginnt, und der Mond geht auf. Es ist ein schöner, klarer, frühsommerlicher Abend. Herden kehren zu ihren Ställen zurück, und das Gebimmel der Glocken vermischt sich mit dem Zirpen der Grillen oder Zikaden, ein lautes: gri, gri! ...

Jesus nimmt eine vorbeiziehende Schafherde zum Thema seiner Predigt. Er sagt: «Euer Vater ist wie ein guter Hirte. Was tut der gute Hirte? Er sucht die guten Weideplätze für seine Schäflein, wo es keine schädlichen und giftigen Pflanzen gibt, wohl aber süßen Klee, duftende Minze und bittere, aber heilsame Kräuter. Er sucht einen Platz, wo es außer genügender Nahrung auch kühles und reines Wasser und schattenspendende Bäume gibt, und wo sich keine Vipern und Schlangen im Grün der Schollen verbergen. Er gibt nicht immer den saftigsten Weiden den Vorzug, weil er weiß, daß es dort zuweilen auch Vipern und giftige Kräuter gibt. Er zieht die gebirgige Weide vor, wo der Tau das Gras rein und frisch erhält, aber die Sonne die Reptilien fernhält; wo die Luft rein und bewegt ist und nicht so schwer und ungesund wie die in der Ebene. Der gute Hirte beobachtet jedes einzelne seiner Schäflein. Er pflegt sie, wenn sie erkranken, und heilt ihre Wunden. Jene, die wegen allzu großer Gefräßigkeit krank werden könnten, ruft er zu sich, und andere, die zu lange in der Nässe oder der prallen Sonne verweilen, treibt er anderswo hin. Wenn ein Schaf wenig Appetit hat, sucht er diesen mit bitteren, aromatischen Kräutern anzuregen. Er streckt ihm die Kräuter mit der Hand entgegen, unter gutem Zureden, wie wenn es sich um einen Menschen handle.

So macht es auch der gute Vater im Himmel mit seinen auf der Erde irrenden Kindern. Seine Liebe ist der Stab, der sie sammelt, seine Stimme ist die Führung, seine Weideplätze sind sein Gesetz, und sein Schafstall ist der Himmel.

Manchmal aber läuft ein Schäflein fort. Er hatte es sehr lieb! Es war jung, rein, schön und weiß wie eine Wolke am Frühlingshimmel. Der Hirte hat ihm immer liebevolle Blicke zugeworfen und ist stets darauf bedacht gewesen, es ihm an nichts fehlen zu lassen, damit es seine Liebe erwidere. Aber das Schäflein läuft davon.

Auf dem Weg am Rand der Weide hat sich ein Versucher herangemacht. Er trägt keinen einfachen Hirtenkittel, sondern ein vielfarbiges Gewand. Er hat nicht den ledernen Gürtel mit der kleinen Axt und dem herunterhängenden Messer, sondern einen goldenen Gürtel, an dem silberne Glöcklein hängen, die wie Lerchenstimmen klingen, und Gefäße mit berauschenden Essenzen... Er trägt nicht den Krummstab, mit dem der gute Hirte die Schäflein sammelt und verteidigt; und wenn der Krummstab nicht genügt, ist er bereit, sie mit Axt und Messer und auch mit dem Leben zu verteidigen. Dieser Verführer, der vorübergeht, hat in der Hand ein mit Perlen besetztes Rauchfaß, aus dem ein betörender Rauch, der gleichzeitig Duft und Gestank ist, aufsteigt, während das Glitzern der Schmuckstücke, unechter Schmuckstücke, die Augen blendet. Er geht singend daher und streut Salz aus, das auf der dunklen Straße glitzert.

Neunundneunzig Schafe schauen ihn an und bleiben wo sie sind.

Das hundertste, das jüngste, das Lieblingsschaf, macht einen Sprung und verschwindet hinter dem Verführer. Der Hirte ruft nach ihm, aber es kehrt nicht zurück. Es läuft rascher als der Wind, um den Vorübergegangenen einzuholen; um sich beim Laufen zu stärken, kostet es von dem Salz, schlingt es in sich hinein und verspürt darauf ein Brennen und ein fremdartiges Gefühl, das es verführt, nach dem tiefen Wasser im Dunkel des Waldes zu lechzen. Und in der Wildnis verliert es sich, immer hinter dem Verführer herlaufend; es fällt, steht auf, fällt wieder... Ein-, zwei-, dreimal fühlt es an seinem Hals die Umarmung von Schlangen, und in seinem Durst trinkt es schmutziges Wasser, und da es hungrig ist, frißt es ekelerregende Blätter und Kräuter.

Was tut indessen der gute Hirte? Er bringt die neunundneunzig Schafe in Sicherheit; dann macht er sich auf den Weg und sucht solange, bis er Spuren des verlorenen Schäfleins gefunden hat. Da dieses nicht zu ihm zurückkehrt und seine Einladung in den Wind schlägt, geht er zu ihm. Und er sieht es von weitem, trunken vom Geifer der Schlangen, so trunken, daß es keine Sehnsucht nach dem geliebten Antlitz verspürt, sondern darüber spottet. Und es fühlt sich schuldbewußt, gleichsam als Dieb, der in eine fremde Wohnung eingedrungen ist, so schuldbewußt, daß es keinen Mut mehr hat aufzuschauen... Aber der Hirte wird nicht müde... Er geht weiter, sucht und sucht und folgt ihm. Er findet seine Spur. Weinend sieht er auf den Spuren des verlorenen Schäfleins Wollfetzen: Fetzen der Seele; Blutspuren; verschiedene Vergehen; Schmutz: Beweis seiner Wollust. Er geht weiter und holt es ein.

Ah! Ich habe dich gefunden, geliebtes Schäflein. Ich habe dich eingeholt! Wie weit bin ich deinetwegen gelaufen, um dich in den Schafstall zurückzuholen! Neige nicht beschämt den Kopf. Deine Sünde ist in meinem Herzen begraben. Niemand außer mir, der ich dich liebe, wird es erfahren. Ich werde dich verteidigen vor fremder Kritik. Ich werde dich mit meiner Person decken und dir ein Schild sein gegen die Steinwürfe der Ankläger. Komm! Bist du verwundet? Oh, zeige mir deine Wunden. Ich kenne sie. Aber ich möchte, daß du sie mir zeigst mit dem Vertrauen, das du hattest, als du noch rein warst und mich, deinen Hirten und Gott, mit unschuldigen Augen ansahst. Sieh, da sind sie. Sie haben alle einen Namen. Wie traurig sie doch sind! Wer hat dir so tiefe Wunden im Grunde deines Herzens geschlagen? Der Versucher, ich weiß es! Er, der keinen Hirtenstab und keine Axt hat, aber dessen vergifteter Biß in die Tiefe dringt. Und hinter ihm stachen dir die falschen Edelsteine seines Weihrauchfasses in die Augen: Sie haben dich verführt mit ihrem Glitzern... Aber es war nur Höllenschwefel, der ans Licht gezogen wurde, um dir das Herz zu verbrennen. Schau, wie viele Wunden! Welch zerrissenes Fell, wieviel Blut, wie viele Dornen!

O arme, kleine, enttäuschte Seele! Aber sage mir: wenn ich dir verzeihe, wirst du mich dann wieder lieben? Sage mir: wenn ich die Arme nach dir ausstrecke, wirst du dann herbeieilen? Sage mir: hast du nicht Durst nach echter, guter Liebe? Nun, komm und werde wieder neu geboren. Kehre auf die heiligen Weiden zurück. Weine! Deine Tränen, mit den meinen vermischt, waschen die Spuren deiner Sünde ab, und ich will dir meine Brust und meine Venen öffnen, weil du vom Übel, das dich verbrannt hat, aufgezehrt bist, und ich sage zu dir: "Nähre dich und lebe."

Komm, daß ich dich in meine Arme nehme. Wir werden schnell auf heilige und sichere Weiden gehen. Du wirst alles von dieser Stunde der Verzweiflung vergessen. Und die neunundneunzig Schwestern, die guten, sie werden jubeln bei deiner Rückkehr; denn ich sage dir, mein verirrtes Schäflein, daß ich dich, von weither kommend, gesucht, eingeholt und gerettet habe; man feiert mehr ein verlorenes Schaf, das zurückkehrt, als die neunundneunzig Gerechten, die sich nie vom Schafstall entfernt haben.»

Jesus hat sich nie umgedreht, um auf den Weg zu blicken in seinem Rücken, auf dem im abendlichen Dämmerschein Maria von Magdala dahergekommen ist. Sie ist immer noch sehr elegant, aber wenigstens gut gekleidet, von einem dunklen Schleier bedeckt, der ihre Züge und Formen verhüllt. Und als Jesus sagt: «Ich habe dich gefunden, Geliebte», fährt Maria mit den Händen unter den Schleier und beginnt zu weinen, leise und untröstlich. Das Volk sieht sie nicht, denn sie befindet sich auf der anderen Seite der Hecke, die den Weg einsäumt. Nur der Mond, der hoch steht, und der Geist Jesu sehen sie...

 

Erstellt: Juni 2004

 

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