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Bekehrung eines Esseners

aus Kap.428: 3. Lehrjahr, April/Mai

Die folgende Szene schließt sich an das Gleichnis vom abgesetzten Verwalter an:

Eine Stimme erhebt sich aus der Gruppe der Essener: «Der Mensch ist nicht frei, zu wählen. Er ist gezwungen, seiner Bestimmung zu folgen. Wir behaupten nicht, daß ohne Weisheit verteilt worden sei. Im Gegenteil, der Allwissende hat nach seinem eigenen vollkommenen Plan die Zahl derer, die des Himmels würdig sind, festgelegt, und die anderen geben sich vergeblich Mühe, es zu werden. So ist es, und anders kann es nicht sein. Wie einer, der aus dem Haus geht, den Tod durch einen Stein finden kann, der sich vom Gesims des Hauses löst, kann ein anderer im dichtesten Gedränge der Schlacht ohne die geringste Wunde davonkommen; und so wird derjenige, der gerettet werden will, während es im ewigen Buch nicht so geschrieben steht, ständig sündigen, ohne es zu wissen, weil ihm die Verdammung bestimmt ist.»

«Nein, Mann, so ist es nicht. Sieh deinen Irrtum ein. Wenn du so denkst, beleidigst du den Herrn schwer.»

«Warum? Beweise es mir, und ich werde meine Meinung ändern.»

«Indem du dies behauptest, gibst du im Geist zu, daß Gott ungerecht gegen seine Geschöpfe ist. Gott hat sie in gleicher Weise und mit der gleichen Liebe geschaffen. Er ist ein Vater, vollkommen in seiner Vaterschaft, wie in allen anderen Dingen. Wie kann er also Unterschiede machen und einen Menschen, der empfangen wird, verdammen, während dieser noch ein unschuldiger Embryo und unfähig zu sündigen ist?»

«Um sich für die Beleidigungen von seiten der Menschen zu rächen.»

«Nein. So rächt sich Gott nicht! Er würde sich nicht mit einem so elenden und noch dazu ungerechten und erzwungenen Opfer zufriedengeben. Die Beleidigung Gottes kann nur durch den menschgewordenen Gott getilgt werden. Er wird die Sühne sein, nicht dieser oder jener Mensch. Oh, wäre es möglich, daß ich nur die Erbsünde tilgen müßte! Daß die Erde keinen Kain gehabt hätte, keinen Lamech, keinen verdorbenen Sodomiten, keinen Mörder, keinen Dieb, keinen Einbrecher, keinen Unzüchtigen, keinen Gotteslästerer, keinen Lieblosen zu den Eltern, keinen Meineidigen usw.! Aber an jeder einzelnen dieser Sünden ist nicht Gott, sondern der Sünder schuld. Gott hat den Menschen die Freiheit gelassen, zwischen dem Guten und dem Bösen zu wählen.»

«Er hat nicht gut daran getan», schreit ein Schriftgelehrter.

«Er hat uns über alle Maßen versucht. Obwohl er wußte, daß wir schwach, unwissend und vergiftet waren, hat er uns in Versuchung geführt. Das ist Unklugheit oder gar Bosheit. Du, der du gerecht bist, mußt zugeben, daß ich die Wahrheit sage.»

«Du sagst eine Lüge, um mich zu versuchen. Gott hatte Adam und Eva alle notwendigen Ratschläge gegeben, und was hat es genützt?»

«Er hat es schon damals schlecht gemacht. Er hätte den Baum, die Versuchung, nicht in den Garten setzen dürfen.»

«Aber wo bleibt dann das Verdienst des Menschen?»

«Er wäre auch ohne das Verdienst ausgekommen. Er hätte ohne eigenes Verdienst und nur durch das Verdienst Gottes leben können.»

«Meister, sie wollen dich versuchen. Laß diese Schlangen, und höre uns zu, die wir in Enthaltsamkeit und Betrachtung leben», ruft aufs neue der Essener.

«Ja, ihr lebt in Enthaltsamkeit und Betrachtung, aber schlecht. Warum lebt ihr nicht heiligmäßig?»

Der Essener beantwortet diese Frage nicht, sondern fragt: «So wie du mir eine überzeugende Antwort, was die freie Entscheidung betrifft, gegeben hast – und ich werde guten Willens darüber nachdenken, in der Hoffnung, sie annehmen zu können – so sage mir jetzt: Glaubst du wirklich an eine Auferstehung des Fleisches und an ein Leben der Geister, das durch sie vervollständigt wird?»

«Willst du etwa, daß Gott dem Leben des Menschen einfach so ein Ende setze?»

«Die Seele, das verstehe ich... Aber wenn der Lohn sie glücklich macht, wozu dient dann die Auferstehung des Fleisches? Wird sie die Glückseligkeit der Heiligen vermehren?»

«Nichts wird die Glückseligkeit vermehren, die ein Heiliger hat, wenn er Gott besitzt. Das heißt, nur eines wird sie am Jüngsten Tag vermehren: die Gewißheit, daß die Sünde nicht mehr existiert. Aber ist es nicht recht, daß Fleisch und Seele, so wie sie heute im Kampf um den Besitz des Himmels vereint sind, auch am Ewigen Tag vereint seien, um sich gemeinsam des Lohnes zu erfreuen? Leuchtet dir das nicht ein? Weshalb lebst du dann in Enthaltsamkeit und Betrachtung?»

«Um... mehr Mensch zu sein, Herr über die anderen Lebewesen, die nur ihrem Instinkt gehorchen, und um besser zu sein als der größte Teil der Menschen, die von Sinnlichkeit durchdrungen sind, auch wenn sie Stirnbänder, Falbeln und weite Gewänder tragen und sich die "Abgesonderten" nennen.»

Anathema! Die Pharisäer, die dieser Angriff, der die Menge zustimmend murmeln läßt, voll getroffen hat, winden sich und schreien wie besessen:

«Er beleidigt uns, Meister! Du kennst unsere Heiligkeit. Verteidige uns!»

Jesus antwortet: «Auch er kennt eure Scheinheiligkeit. Die Gewänder entsprechen nicht der Heiligkeit. Verdient es, gelobt zu werden, dann kann ich für euch sprechen. Dir aber, Essener, antworte ich, daß du dich für zu wenig opferst. Warum opferst du dich? Für wen? Wie lange? Für ein menschliches Lob. Für einen sterblichen Leib. Für eine kurze Zeit, die dahineilt wie der Flug des Falken. Bringe deine Opfer auf einer höheren Ebene dar. Glaube an den wahren Gott, an die selige Auferstehung, an den freien Willen des Menschen. Lebe als Asket, aber aus diesen übernatürlichen Gründen, und du wirst mit dem auferstandenen Fleisch die ewige Glückseligkeit genießen.»

«Es ist zu spät! Ich bin alt! Ich habe vielleicht mein Leben durch die Zugehörigkeit zu einer Sekte des Irrtums vergeudet... Es gibt keine Rettung mehr...»

«Nein! Es gibt immer eine Rettung für den, der das Gute will. Hört, o ihr Sünder, o ihr, die ihr im Irrtum seid, o ihr, welches auch eure Vergangenheit gewesen sein mag. Bereut. Kommt zur Barmherzigkeit. Ich öffne euch die Arme. Ich zeige euch den Weg. Ich bin die reine Quelle, die Quelle des Lebens. Werft die Dinge, die euch bis jetzt verführt haben, weg! Kommt entblößt zur Reinigung. Bekleidet euch mit Licht. Werdet wiedergeboren. Habt ihr auf den Straßen Raub getrieben oder in herrschaftlicher Weise und mit Hinterlist beim Handel oder bei der Verwaltung gestohlen? Kommt. Habt ihr euch durch Laster oder unreine Leidenschaften befleckt? Kommt. Seid ihr Unterdrücker gewesen? Kommt. Kommt und bereut es... Kommt zur Liebe und zum Frieden. Oh, laßt zu, daß die Liebe Gottes sich in euch ergieße. Tröstet diese Liebe, die über euren Widerstand, eure Furcht und eure Zaghaftigkeit betrübt ist. Ich bitte euch darum im Namen meines und eures Vaters. Kommt alle zum Leben und zur Wahrheit, und ihr werdet das ewige Leben erlangen.»

Nach einer weiteren Auseinandersetzung mit den anwesenden Pharisäern kommt Jesus zum Ende seiner Rede:

«Jene, die gesündigt haben, ihre Sünden jedoch bereuen, sollen wissen und glauben, daß Gott die unendliche Güte ist, und zu dem kommen, der ihnen verzeiht und ihnen das ewige Leben schenkt. Geht mit dieser Gewißheit, und verbreitet sie in den Herzen. Verkündigt die Barmherzigkeit, die euch Frieden gibt und euch im Namen des Herrn segnet.»

Die Menschen entfernen sich nur langsam, einerseits, weil der Weg sehr schmal ist, und andererseits weil sie sich nicht von Jesus trennen wollen, aber sie entfernen sich...

Bei Jesus bleiben nur die Apostel, und während sie miteinander sprechen, machen auch sie sich auf den Weg. Sie suchen Schatten und gehen am Rande eines kleinen Waldes aus zerzausten Tamarinden entlang. Im Wald ist ein Essener, und zwar der, der mit Jesus gesprochen hat. Er ist dabei, seine weißen Gewänder abzulegen.

Petrus, der etwas vorausgegangen ist, bleibt erschrocken stehen, als er den Mann in kurzen Beinkleidern sieht, dann läuft er zurück und sagt: «Meister! Ein Verrückter! Der, der mit dir gesprochen hat, der Essener. Er hat sich entkleidet und weint und jammert. Wir können dort nicht hingehen.»

Doch der bärtige, magere Mann, der bis auf die kurzen Beinkleider und die Sandalen nackt ist, kommt schon aus dem dichten Wald heraus und nähert sich Jesus, weinend und sich an die Brust schlagend. Er wirft sich zu Boden: «Du hast in meinem Herzen ein Wunder gewirkt. Du hast meinen Geist geheilt. Ich gehorche dir. Ich will mich mit dem Licht bekleiden und jeden anderen Gedanken, der mir Gewand des Irrtums wäre, fahren lassen. Ich mache mich frei, um den wahren Gott zu betrachten und das Leben und die Auferstehung zu erlangen. Genügt das? Gib mir einen neuen Namen und sage mir einen Ort, wo ich für dich und deine Worte leben kann.»

«Er ist wahnsinnig. Wir, die wir so viele Worte hören, verstehen nicht danach zu leben, und dieser... nach einer einzigen Predigt...» sagen die Apostel unter sich.

Doch der Mann, der sie hört, erwidert: «Wollt ihr Gott Grenzen setzen? Er hat mir das Herz gebrochen, um mir einen freien Geist zu geben. Herr! ...» fleht er, während er Jesus seine Arme entgegenstreckt.

«Ja, nenne dich Elias und sei Feuer. Jener Berg ist voller Höhlen. Geh dorthin, und wenn du die Erde in einem furchtbaren Erdbeben erzittern siehst, dann komm hervor und suche die Diener des Herrn auf, um dich ihnen anzuschließen. Du wirst wiedergeboren werden und ebenfalls ein Diener sein. Geh nun.»

Der Mann küßt ihm die Füße, erhebt sich und geht weg.

«Aber geht er so, unbekleidet?» fragen die Apostel erstaunt.

«Gebt ihm einen Mantel, ein Messer, Zunder, Feuerstein und ein Brot. Er wird heute und morgen wandern, und dort, wo wir angehalten haben, wird er sich im Gebet zurückziehen, und der Vater wird für seinen Sohn sorgen.»

Andreas und Johannes eilen ihm nach und holen ihn ein, als er gerade an einer Biegung der Straße verschwindet.

Als sie zurückkehren, sagen sie: «Er hat die Sachen genommen. Wir haben ihm den Weg gezeigt, der zu dem Ort führt, an dem wir gewesen sind... Welch unerwartete Beute, Herr!»

«Gott läßt auch auf den Felsen Blumen blühen. Auch in der Wüste der Herzen läßt er zu meinem Trost Seelen guten Willens erstehen. Jetzt gehen wir nach Jericho. Wir werden in einem Haus auf dem Lande haltmachen.»

 

 

 

 

 

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