DIE
FROMMEN FRAUEN AM GRAB
(Bd. 12, Kap.681)
Ausgangspunkt aller Osterertagsereignisse ist
der Abendmahlssaal.
Die Frauen gehen inzwischen, nachdem sie das Haus
verlassen haben, an den Mauern entlang, Schatten im Schatten. Einige Zeit
schweigen sie, hüllen sich ganz in ihre Mäntel und fürchten sich vor so viel
Stille und Einsamkeit. Doch nachdem sie in Anbetracht der absoluten Ruhe in der
Stadt sicherer geworden sind, gehen sie in einer Gruppe und wagen, miteinander
zu sprechen.
«Sind die Tore wohl schon offen?» fragt Susanna.
«Gewiß. Schau, dort kommt der erste Gärtner mit seinem
Gemüse. Er ist auf dem Weg zum Markt», antwortet Salome.
«Werden sie nichts sagen?» fragt wiederum Susanna.
«Wer?» will Maria Magdalena wissen.
«Die Soldaten am Gerichtstor. Dort kommen nur wenige
herein, und noch weniger gehen hinaus... Wir werden Verdacht erregen...»
«Ja und? Sie werden uns anschauen. Sie werden fünf Frauen
sehen auf dem Weg in die Felder. Wir könnten auch Leute sein, die nach dem
Passahfest wieder in ihre Dörfer zurückkehren.»
«Aber... um nicht die Aufmerksamkeit irgendeines
Übelgesinnten zu erregen, wäre es vielleicht besser, zu einem anderen Tor
hinauszugehen und dann an der Mauer entlang zurückzukommen ...»
«Wir würden den Weg verlängern.»
«Aber wir würden uns auch sicherer fühlen. Gehen wir
durch das Wassertor...»
«Oh, Salome, an deiner Stelle würde ich das Osttor
nehmen! So könntest du noch länger laufen. Wir müssen uns beeilen und rasch
nach Hause zurückkehren.» Es ist die resolute Magdalena, die das sagt.
«Also dann ein anderes Tor, nur nicht das Gerichtstor.
Sei so gut...»betteln alle.
«Nun gut. Da ihr es so wollt, gehen wir bei Johanna
vorbei. Sie hat darum gebeten, daß wir sie benachrichtigen. Hätten wir den
direkten Weg genommen, wären wir ohne sie ausgekommen. Aber da ihr einen
längeren Weg machen wollt, gehen wir bei ihr vorbei ...»
«O ja! Auch wegen der dort aufgestellten Wachen... Sie
ist bekannt und gefürchtet...»
«Ich würde vorschlagen, auch bei Joseph von Arimathäa
vorbeizuschauen. Er ist der Besitzer des Ortes.»
«Aber ja! Wir können einen Umzug veranstalten, um nicht
aufzufallen! Oh, was für eine ängstliche Schwester habe ich doch! Weißt du, was
wir machen, Martha? Ich gehe voraus und sehe mich um. Ihr kommt dann mit
Johanna nach. Ich werde mich mitten auf die Straße stellen, wenn Gefahr
besteht. Dann seht ihr mich, und wir gehen zurück. Aber was die Wachen
betrifft, habe ich vorgesorgt, und mit dem hier (sie zeigt eine volle
Geldbörse) werden sie uns alles erlauben.»
«Wir werden es auch Johanna sagen. Du hast recht.»
«Dann geht, damit ich gehen kann.»
«Du gehst allein, Maria? Ich komme mit dir», sagt Martha,
die Angst um ihre Schwester hat.
«Nein, du gehst mit Maria des Alphäus zu Johanna. Salome
und Susanna sollen am Tor außerhalb der Mauer auf euch warten. Dann nehmt ihr
alle zusammen die Hauptstraße. Lebt wohl.»
Und Maria Magdalena unterbindet jede weitere mögliche
Bemerkung, indem sie sich rasch mit ihrer Tasche voller Salben und dem Geld im
Gewand entfernt.
Sie eilt, fliegt auf der Straße dahin, die nun in der
ersten Morgenröte etwas freundlicher wird. Sie geht durch das Gerichtstor, um
schneller da zu sein. Niemand hält sie auf...
Die anderen sehen ihr nach, drehen dann der
Straßenkreuzung, an der sie gestanden sind, den Rücken und nehmen eine enge,
dunkle Gasse, die in der Nähe des Xystos in eine breite, offene Straße mit schönen
Häusern mündet. Dort teilen sie sich noch einmal: Salome und Susanna gehen auf
der Straße weiter, während Martha und Maria des Alphäus an das eisenbeschlagene
Tor klopfen und sich an dem Fensterchen zeigen, das der Türhüter öffnet.
Sie treten ein und begeben sich zu Johanna, die schon
aufgestanden und ganz in dunkles Violett gekleidet ist, das
sie noch blasser macht. Auch sie ist dabei, zusammen mit der Amme und einer
Dienerin Salben zu bereiten.
«Ihr seid gekommen? Gott möge es euch vergelten. Aber wenn
ihr nicht gekommen wäret, wäre ich allein gegangen... Um Trost zu finden...
Denn vieles hat sich verändert nach diesen schrecklichen Tagen. Und um mich
nicht so einsam zu fühlen, muß ich zu dem Stein gehen, daran klopfen und sagen:
"Meister, ich bin die arme Johanna... Laß nicht auch du mich
allein..."» Johanna weint leise, aber sehr verzweifelt, und Esther, die
Amme, macht hinter dem Rücken der Herrin unverständliche Zeichen, während sie
ihr den Mantel umlegt.
«Ich gehe, Esther.»
«Gott möge dich trösten!»
Sie verlassen den Palast, um die Gefährtinnen einzuholen.
In diesem Augenblick erfolgt das kurze, heftige Erdbeben, das die Einwohner von
Jerusalem erneut in Panik versetzt. Die Erinnerung an die Ereignisse des
Freitags ist noch frisch.
Die drei Frauen kehren überstürzt zurück und warten in
der großen Vorhalle zwischen den schreienden und Gott anrufenden Dienerinnen
und Dienern angstvoll auf neue Erdstöße...
... Magdalena hingegen ist gerade am Anfang des Weges,
der zum Garten des Joseph von Arimathäa führt, als sie das mächtige und
zugleich harmonische Dröhnen dieses himmlischen Zeichens überrascht. Im schwach
rosafarbenen Licht des Morgengrauens, das sich über den Himmel ausbreitet, an
dem im Westen noch ein hartnäckiger Stern widersteht, und der bisher grünlichen
Luft einen goldenen Schimmer verleiht, erscheint ein herrliches großes Licht,
ein Feuerball, und saust im Zickzack durch die ruhige Luft auf die Erde
hernieder.
Maria Magdalena wird von ihm fast gestreift und zu Boden
geworfen.
Sie bleibt einen Augenblick zusammengekauert liegen und
flüstert: «Mein Herr!» Dann richtet sie sich wie ein Blumenstengel nach einem
Windstoß wieder auf und läuft noch schneller, um den Garten zu erreichen. Sie
geht rasch hinein und eilt wie ein verfolgter, sein Nest suchender Vogel dem
Felsengrab zu. Aber so schnell sie auch läuft, sie kann nicht dort sein, als
der himmlische Meteor mit seiner Kraft und seinem Feuer die zur Sicherung des
schweren Steins angebrachten Kalksiegel zerstört, und auch nicht, als mit einem
letzten Donner die steinerne Tür fällt und diese Erschütterung noch zu dem
Erdbeben hinzukommt, das, obgleich kurz, doch so heftig ist, daß die Wachen wie
tot zu Boden stürzen.
Als Maria ankommt, sieht sie diese nutzlosen
Kerkermeister des Siegers wie gemähte Halme am Boden liegen. Maria Magdalena
bringt das Erdbeben nicht mit der Auferstehung in Zusammenhang. Als sie diese
Szene sieht, hält sie sie vielmehr für eine Strafe Gottes für die Schänder des
Grabes Jesu, fällt auf die Knie und klagt: «O weh, sie haben ihn gestohlen!»
Sie ist ganz verzweifelt und weint wie ein Kind, das in
der Gewißheit gekommen ist, den gesuchten Vater anzutreffen, und statt dessen
die Wohnung leer vorfindet. Dann steht sie auf und läuft fort, um Petrus und
Johannes aufzusuchen. Und da sie nur daran denkt, diese beiden zu
benachrichtigen, vergißt sie, den Freundinnen entgegenzugehen und auf dem Weg
auf sie zu warten. Flink wie eine Gazelle eilt sie auf demselben Weg zurück,
durch das Gerichtstor und die nun etwas belebteren Straßen, stürzt auf das Tor
des gastlichen Hauses zu und rüttelt und klopft heftig daran.
Die Hausherrin öffnet. «Wo sind Johannes und Petrus?»
fragt Maria Magdalena atemlos.
«Dort», und die Frau zeigt auf den Abendmahlsaal.
Maria Magdalena geht hinein, und kaum ist sie drinnen und
steht vor den beiden Überraschten, sagt sie mit aus Mitleid mit der Mutter
leiser Stimme, die aber mehr Kummer ausdrückt, als wenn sie schreien würde:
«Sie haben den Herrn aus dem Grab geholt! Wer weiß, wo sie ihn hingelegt
haben!» Und zum ersten Mal bebt und wankt sie, und um nicht zu fallen, hält sie
sich, wo sie gerade kann.
«Wie?! Was sagst du da?» fragen die beiden.
Und sie berichtet betrübt: «Ich war vorausgegangen, um
die Wachen zu bestechen... damit sie uns hineinlassen. Sie liegen da wie tot...
Das Grab ist offen, der Stein am Boden... Wer? Wer kann es gewesen sein? Oh,
kommt! Beeilt euch...»
Petrus und Johannes machen sich sofort auf den Weg. Maria
geht ihnen einige Schritte nach. Dann kehrt sie um, packt die Hausherrin,
schüttelt sie heftig in ihrer vorsorgenden Liebe und zischt ihr ins Gesicht:
«Hüte dich, jemanden zu ihr hineinzulassen! (Sie deutet auf das Zimmer Marias.)
Vergiß nicht, daß ich deine Herrin bin. Gehorche und schweige.»
Dann läßt sie die erstaunte Frau stehen und holt die
Apostel ein, die mit großen Schritten zum Grab eilen...
... Susanna und Salome, die sich indessen von den
Gefährtinnen getrennt und die Mauer erreicht haben, werden dort von dem
Erdbeben überrascht. Erschreckt flüchten sie unter einen Baum und bleiben
stehen im Widerstreit der Wünsche, zum Grab zu gehen oder zu Johanna zu laufen.
Schließlich siegt die Liebe über die Angst, und sie gehen zum Grab.
Immer noch bestürzt betreten sie den Garten und sehen die
reglosen Wächter... sehen ein großes Licht aus dem offenen Grab dringen. Und
ihr Staunen wächst und wird schließlich vollkommen, als sie sich an den Händen
fassen, um einander Mut zu machen, an die Schwelle des Grabes treten und im
Dunkel der Höhle eine leuchtende, wunderschöne, sanft lächelnde Gestalt sehen,
die sie von ihrem Platz aus grüßt. Sie lehnt rechts am Stein der
Einbalsamierung, dessen Grau sich vor so viel leuchtendem Glanz in Nichts
auflöst.
Stumm vor Staunen fallen sie auf die Knie.
Doch der Engel sagt sanft: «Fürchtet euch nicht vor mir.
Ich bin der Engel des göttlichen Schmerzes. Ich bin gekommen, um mich über
dessen Ende zu freuen. Der Schmerz Christi ist nicht mehr, noch seine
Erniedrigung im Tod. Jesus von Nazareth, der Gekreuzigte, den ihr sucht, ist
auferstanden. Er ist nicht mehr hier. Leer ist der Ort, an dem er begraben
wurde. Jubelt mit mir. Geht und sagt Petrus und den Jüngern, daß er
auferstanden ist und euch nach Galiläa vorausgeht. Dort werdet ihr ihn noch
eine kleine Weile sehen, wie er es vorhergesagt hat.»
Die Frauen werfen sich auf ihr Angesicht, und als sie es
wieder erheben, fliehen sie, als würden sie von einer Strafe verfolgt. Sie sind
zu Tode erschrocken und flüstern: «Nun werden wir sterben! Wir haben den Engel
des Herrn gesehen.»
Erst auf dem freien Feld beruhigen sie sich etwas und
beraten sich. Was tun? Wenn sie erzählen, was sie gesehen haben, wird man ihnen
nicht glauben. Wenn sie die anderen auffordern, selbst hinzugehen, können sie
von den Juden beschuldigt werden, die Wächter getötet zu haben ... Nein, sie
dürfen nichts sagen, weder den Freunden noch den Feinden ...
Verängstigt und schweigend kehren sie auf einem anderen
Weg zum Haus zurück. Sie gehen hinein und flüchten in den Abendmahlsaal, wollen
nicht einmal Maria sehen... Und dort fragen sie sich plötzlich, ob das, was sie
gesehen haben, nicht eine Täuschung des Teufels gewesen ist. Demütig wie sie
sind, halten sie es nicht für möglich, daß ihnen gewährt wurde, den Boten
Gottes zu sehen. Es war Satan, der ihnen Angst einjagen wollte, um sie von dort
fernzuhalten.
Sie weinen und beten wie zwei von einem Alptraum
verängstigte Kinder.
... Die dritte Gruppe, bestehend aus Johanna, Maria des
Alphäus und Martha, entschließt sich, da nichts weiter geschieht, dorthin zu gehen,
wo gewiß die Gefährtinnen auf sie warten. Sie begeben sich auf die Straße, wo
nun erschrockene Leute über das Erdbeben sprechen, es in Zusammenhang mit den
Ereignissen des Freitags bringen und auch Dinge sehen, die gar nicht sind.
«Besser, wenn alle verängstigt sind. Vielleicht sind es
auch die Wachen und machen keine Schwierigkeiten», sagt Maria des Alphäus.
Sie eilen zur Stadtmauer. Doch während sie auf dem Weg
dorthin sind, haben Petrus und Johannes, gefolgt von Maria Magdalena, bereits
den Garten erreicht.
Johannes, der schneller ist, kommt als erster am Grab an.
Die Wachen sind nicht mehr da. Auch der Engel ist nicht mehr da. Johannes kniet
furchtsam und schmerzerfüllt am offenen Eingang nieder, um zu beten und aus den
Dingen, die er sieht, zu schließen, was vorgefallen ist. Aber er sieht nichts
als die Binden, die in einem Häufchen auf dem Leichentuch am Boden liegen.
«Er ist wirklich nicht da, Simon! Maria hat es richtig
gesehen. Komm, geh hinein und schau.»
Petrus, der vom Laufen ganz außer Atem ist, geht in das
Grab hinein. Unterwegs hat er noch gesagt: «Ich werde es nicht wagen, mich
diesem Ort zu nähern.» Jetzt aber will er nur eines, herausfinden, wo der
Meister sein kann. Er ruft ihn sogar, als ob er sich in irgendeinem dunklen
Winkel versteckt haben könnte.
Zu dieser Morgenstunde ist es noch sehr dunkel in der
Tiefe des Grabes, in das nur Licht durch die kleine Türöffnung fällt, die nun
Johannes und Magdalena ausfüllen ... Und Petrus sieht nur wenig und muß sich
mit den Händen vorantasten ... Er berührt zitternd den Einbalsamierungstisch
und fühlt, daß er leer ist...
«Er ist nicht da, Johannes! Er ist nicht da... ! Oh, komm auch du! Ich habe so viel geweint, daß ich in
diesem schwachen Licht fast nichts sehe.»
Johannes steht auf und geht hinein. Während er es tut,
hat Petrus das in einer Ecke liegende, schön gefaltete Schweißtuch entdeckt.
Darin befindet sich das sorgsam aufgerollte Grabtuch.
«Sie haben ihn wirklich weggebracht. Die Wächter hat man
nicht unseretwegen aufgestellt, sondern um dies zu tun... Und wir haben es
zugelassen. Wir haben es ermöglicht, da wir fortgegangen sind...»
«Oh, wo haben sie ihn wohl hingebracht?»
«Petrus! Petrus, das ... ist das Ende!»
Die beiden Jünger gehen ganz vernichtet hinaus.
«Gehen wir, Frau. Du wirst es der Mutter berichten...»
«Ich gehe nicht von hier fort. Ich bleibe hier... Irgend
jemand wird kommen... Oh, ich gehe nicht fort... Hier ist immer noch etwas von
ihm. Die Mutter hatte recht... die Luft einatmen zu können, wo er gewesen ist,
das ist der einzige Trost, der uns bleibt.»
«Der einzige Trost... Nun siehst also auch du ein, daß es
töricht war, zu hoffen ...» sagt Petrus.
Maria erwidert nichts darauf. Sie wirft sich zu Boden,
gerade am Eingang, und weint, während die anderen langsam fortgehen.
Dann hebt sie das Haupt und schaut hinein, und mit
tränenerfüllten Augen sieht sie zwei Engel, die am Kopfende und am Fußende des
Einbalsamierungstisches sitzen. Die arme Maria ist so verwirrt in ihrem
heftigen Kampf zwischen der Hoffnung, die stirbt, und dem Glauben, der nicht
sterben will, daß sie sie nur verstört ansieht und sich nicht einmal wundert.
Die Starke, die allem wie eine Heldin getrotzt hat, kann nur noch weinen.
«Warum weinst du, Frau?» fragt einer der beiden strahlenden
Jünglinge; denn sie sehen aus wie wunderschöne Halbwüchsige.
«Weil sie meinen Herrn weggenommen haben und ich nicht
weiß, wohin sie ihn gelegt haben.»
Maria hat keine Angst, mit ihnen zu reden. Sie fragt auch
nicht: «Wer seid ihr?» Nichts. Nichts verwundert sie mehr. Alles, worüber sich
ein Mensch wundern könnte, hat sie längst erlebt. Sie ist jetzt nur noch ein
gebrochenes Geschöpf, das kraftlos und rückhaltslos weint.
Der Engel sieht seinen Gefährten an und lächelt. Auch
dieser lächelt. In einem Aufleuchten himmlischer Freude schauen beide in den
blühenden Garten hinaus, in dem sich die abertausend Blüten der dichten
Apfelbäume unter den ersten Strahlen der Sonne geöffnet haben.
Maria wendet sich um, um zu sehen, was die beiden
betrachten. Und sie erblickt einen wunderschönen Mann, und es ist mir
unbegreiflich, daß sie ihn nicht sofort erkennt. Einen Mann, der sie mitleidig
anschaut und fragt: «Frau, warum weinst du? Wen suchst du?»
Es ist wahr, es ist ein Jesus, der seinen Glanz ein wenig
verhüllt hat aus Mitleid mit dem Geschöpf, das zu viele Aufregungen ausgelaugt
haben und das an einer so plötzlichen Freude sterben könnte. Aber ich frage
mich trotzdem, wie es möglich ist, daß sie ihn nicht erkennt.
Maria sagt schluchzend: «Sie haben mir den Herrn Jesus
weggenommen. Ich bin gekommen, um ihn in Erwartung seiner Auferstehung
einzubalsamieren... Ich habe meinen ganzen Mut, meine Hoffnung und meinen
Glauben um diese meine Liebe gesammelt und aufrechterhalten... und nun finde
ich ihn nicht mehr... Vielmehr habe ich mit meiner Liebe die Hoffnung, den
Glauben und den Mut umgeben und vor den Menschen verteidigt... Aber alles war
vergebens! Die Menschen haben meine Liebe geraubt, und damit haben sie mir
alles genommen... O mein Herr, wenn du ihn fortgebracht hast, dann sage mir,
wohin du ihn gelegt hast. Und ich werde ihn holen... Ich werde es niemandem
sagen... Es soll ein Geheimnis zwischen dir und mir sein. Sieh, ich bin die
Tochter des Theophilus, die Schwester des Lazarus, aber ich knie vor dir und flehe
dich an wie eine Sklavin. Willst du, daß ich dir den Leichnam abkaufe? Ich
werde es tun. Wieviel verlangst du? Ich bin reich. Ich kann dir sein Gewicht in
Gold und Edelsteinen aufwiegen. Aber gib ihn mir zurück. Ich werde dich nicht
verraten. Willst du mich schlagen? Tu es. Bis aufs Blut, wenn du willst. Wenn
du einen Haß gegen ihn hegst, dann rechne mit mir ab. Aber gib ihn mir zurück.
Oh, laß mich nicht in diesem Elend versinken, mein Herr! Erbarmen mit einer
armen Frau... ! Für mich willst du es nicht tun? Dann für seine Mutter! Sage
mir, sage mir, wo mein Herr Jesus ist. Ich bin stark. Ich werde ihn in meine
Arme nehmen und ihn wie ein Kind in Sicherheit bringen. Herr... Herr... Du
siehst... Seit drei Tagen verfolgt uns der Zorn Gottes für alles, was dem Sohn
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Gottes angetan wurde... Laß dem Verbrechen nicht auch
noch die Schändung folgen...»
«Maria!» Jesus leuchtet auf bei diesem Ruf. Er enthüllt
sich nun in seinem triumphierenden Glanz.
«Rabbuni!» Der Schrei Maria Magdalenas ist wahrlich der
«große Schrei», der den Zyklus des Todes beschließt. Beim ersten umschlang die
Finsternis des Hasses das Opfer mit Todesbanden, beim zweiten vermehrt das
Licht der Liebe seinen Glanz.
Und Maria steht auf bei diesem Schrei, der den Garten
erfüllt, eilt zu Füßen Jesu und will sie küssen.
Jesus hält sie zurück, indem er mit den Fingerspitzen
kaum ihre Stirn berührt: «Rühre mich nicht an. Ich bin noch nicht in diesem
Gewand zum Vater aufgefahren. Geh zu meinen Brüdern und Freunden und sage
ihnen, daß ich zu meinem und eurem Vater, zu meinem und eurem Gott auffahre.
Dann werde ich zu ihnen kommen.» Und Jesus verschwindet in einem unerträglichen
Licht.
Maria küßt den Boden, auf dem er gestanden ist, und eilt
zum Haus. Wie der Blitz ist sie drinnen, denn das Tor ist einen Spalt geöffnet,
um den Hausherrn hinauszulassen, der zum Brunnen geht. Sie öffnet die Tür des
Zimmers Marias und wirft sich an ihr Herz mit dem Ausruf: «Er ist auferstanden!
Er ist auferstanden!» Dann weint sie selig.
Und während Petrus und Johannes herbeieilen und die
erschreckte Salome und Susanna aus dem Abendmahlsaal kommen und ihrer Erzählung
lauschen, treten auch Maria des Alphäus, Martha und Johanna ein und berichten
atemlos, daß sie ebenfalls «dort gewesen sind und zwei Engel gesehen haben, die
sich als der Schutzengel des Gottmenschen und der Engel seines Schmerzes zu
erkennen gegeben und sie beauftragt haben, den Jüngern zu sagen, daß er
auferstanden ist».
Und da Petrus den Kopf schüttelt, fahren sie fort: «Ja,
sie haben gesagt: "Warum sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist
nicht hier. Er ist auferstanden, wie er gesagt hat, als er noch in Galiläa war.
Erinnert ihr euch nicht? Er sagte damals: 'Der Menschensohn muß den Händen der
Sünder überliefert und gekreuzigt werden. Aber am dritten Tage wird er
auferstehen.' "»
Petrus schüttelt den Kopf und sagt: «Zu viele Dinge haben
sich in diesen Tagen ereignet. Ihr seid dadurch verwirrt.»
Magdalena hebt den Kopf von der Brust Marias und sagt:
«Ich habe ihn gesehen! Ich habe mit ihm gesprochen. Er hat mir gesagt, daß er
zum Vater auffährt und dann wiederkommt. Wie schön er war!» Und sie weint, wie
sie noch nie geweint hat, nun, da sie sich nicht mehr quälen und gegen die von
allen Seiten bedrängenden Zweifel ankämpfen muß.
Doch Petrus und selbst Johannes zweifeln immer noch. Sie
schauen einander an, und ihre Augen sagen: «Einbildung von Frauen.»
Auch Susanna und Salome wagen nun zu sprechen. Aber die
unvermeidlichen Unterschiede in den Einzelheiten, die Wächter, die einmal wie
tot und dann gar nicht mehr da waren; die Engel, von denen einmal einer, dann
wieder zwei da waren und die sich den Aposteln nicht gezeigt haben; die beiden
Versionen, daß Jesus hierher kommen oder den Seinen nach Galiläa vorausgehen
würde; all das bewirkt, daß die Zweifel und sogar die Überzeugung der Apostel
nur noch größer werden.
Maria, die heilige Mutter, schweigt und stützt
Magdalena... Ich verstehe das Geheimnis dieses mütterlichen Schweigens nicht.
Maria des Alphäus sagt zu Salome: «Kehren wir zwei
dorthin zurück. Wir wollen sehen, ob wir alle betrunken sind...» und sie eilen
hinaus.
Die anderen bleiben, von den beiden Aposteln leise
belächelt, bei Maria, die in Gedanken versunken schweigt, was jeder auf seine
Art deutet; keiner begreift, daß es eine Ekstase ist.
Die beiden betagten Frauen kommen zurück «Es ist wahr! Es
ist wahr! Wir haben ihn gesehen. Er hat beim Garten des Barnabas zu uns gesagt:
"Der Friede sei mit euch. Fürchtet euch nicht. Geht und sagt meinen
Brüdern, daß ich auferstanden bin und daß sie in einigen Tagen nach Galiläa
gehen sollen. Dort werden wir noch eine Weile beisammen sein." So hat er
gesagt. Maria hat recht. Wir müssen es denen in Bethanien, Joseph, Nikodemus,
den vertrauenswürdigsten Jüngern und den Hirten sagen. Gehen wir, tun wir
etwas, tun wir etwas... Oh, er ist auferstanden... !»
Alle weinen beseligt.
«Ihr seid von Sinnen, Frauen. Der Schmerz hat euren
Verstand verwirrt. Das Licht schien euch ein Engel, der Wind eine Stimme, die
Sonne Christus. Ich mache euch keinen Vorwurf. Ich verstehe euch. Aber ich kann
nur glauben, was ich gesehen habe: das offene, leere Grab und die mit dem
verschwundenen Leichnam geflohenen Wachen.»
«Aber wenn doch die Wächter selbst sagen, daß er
auferstanden ist! Wenn doch die Stadt in Aufruhr ist und die Obersten der Priester
zornentbrannt sind, weil die Wachen entsetzt geflohen sind und geredet haben!
Nun wollen sie, daß sie etwas anderes sagen, und zahlen sie dafür. Aber die
Nachricht hat sich schon verbreitet. Und wenn die Juden auch nicht an die
Auferstehung glauben, nicht glauben wollen, so glauben doch viele andere daran
...»
«Hm, die Frauen... !» Petrus zuckt die Achseln und will
gehen.
Da erhebt die Mutter ihr verklärtes Antlitz und sagt den kurzen
Satz: «Er ist wirklich auferstanden. Ich habe ihn in meinen Armen gehalten und
seine Wunden geküßt.» Magdalena, die noch immer an ihrem Herzen liegt, weint in
ihrer übergroßen Freude wie eine Weide unter einem Wolkenbruch und küßt ihr
blondes Haar. Dann neigt sich Maria über den Kopf dieser leidenschaftlichen
Frau und sagt: «Ja, die Freude ist mächtiger als der Schmerz. Aber diese Freude
ist nur ein Sandkorn im Vergleich zum Ozean der ewigen Freude. Selig bist du,
weil du mehr auf den Geist als auf deinen Verstand gehört hast.»
Petrus wagt nun nicht mehr, zu widersprechen... und in
einer Anwandlung des alten Petrus, die nun wieder zum Vorschein kommt, sagt er,
ja schreit er, als ob die Verspätung nicht auf ihn, sondern auf die anderen
zurückzuführen wäre: «Ja, aber wenn es so ist, dann müssen wir es die anderen
wissen lassen! Die, die auf den Feldern verstreut sind... Wir müssen sie
suchen... etwas tun... Auf, rührt euch! Wenn er wirklich kommen sollte... daß
er uns wenigstens vorfindet», und er bemerkt nicht, daß er mit diesen Worten
bekennt, daß er immer noch nicht völlig an die Auferstehung glaubt.
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Das 12-bändige Werk Maria Valtortas ist vom Parvis Verlag, CH-1648 Hauteville/Schweiz zu
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