DAS STREITGESPRÄCH JESU MIT DEN GELEHRTEN IM TEMPEL
Kap.68
Die Schriftgelehrten zeigen in ihrem Disput
untereinander und mit Jesus eine genaue Vertrautheit mit prophetischen
Schriftstellen über das Erscheinen des Messias. Setzt man die 70 Jahrwochen bei
Daniel 9, 25ff. mit 7*70 = 490 Jahren gleich, erreicht man die Zeit Jesu, wenn
man 62 Jahrwochen (434 Jahre) ab dem Jahr 445 datiert, als unter Ataxerxes I.
und der Leitung Nehemias (Neh 7; 13) die Stadtmauer Jerusalems wieder aufgebaut
und die noch immer bestehenden Ruinen beseitigt werden. Allerdings erstrecken sich
dann die 7 genannten Jahrwochen auf etwa 91 Jahre seit Beginn des Wiederaufbaus
des Tempels ca. 536. Eine Jahrwoche des ersten Zeitabschnitts würde sich
demnach auf 13 Jahre belaufen.
Auftreten und Charakter der Disputteilnehmer Hillel,
Gamaliel und Schammai entsprechen den historischen Kenntnissen, die von ihnen
überliefert sind.
Ich sehe Jesus
bekleidet mit einer Tunika, die – wie mir scheint – aus weißer Leinwand besteht
und bis zu den Füßen reicht. Darüber trägt er ein hellrotes, rechteckiges Tuch.
Keine Kopfbedeckung auf den halblangen, dichten Haaren, die bis zur Mitte der
Ohren reichen und nun etwas dunkler sind. Für sein Alter ist der Jüngling sehr
kräftig und hochgewachsen; sein Gesichtsausdruck aber ist noch sehr jugendlich.
(...)
Ich befinde mich im
Vorhof des Tempels von Jerusalem. Ich sehe Pharisäer in ihren langen, wallenden
Gewändern und Priester in Linnengewändern mit einer kostbaren Plakette oben auf
der Brust und einer an der Stirn und Edelsteinen, die da und dort auf dem
weißen Stoff aufleuchten. Die Gewänder werden in der Taille von einem
wertvollen Gürtel gehalten.
Auch andere, die
nicht so reich gekleidet sind, sehe ich. Auch sie gehören zur priesterlichen
Kaste und sind von ihren Jüngern umgeben. Ich ahne, daß es Gesetzeslehrer sind.
Unter all diesen
Persönlichkeiten komme ich mir ganz verloren vor, weil ich wirklich nicht weiß,
was ich hier zu tun habe. Ich nähere mich einer Gruppe von Gelehrten, in der
gerade ein theologisches Gespräch im Gang ist; viele andere Leute wohnen
demselben bei.
Unter den
"Doktoren" befindet sich eine Gruppe, die von einem gewissen Gamaliel
angeführt wird, den ein anderer, ein fast blinder Greis, in seinen Ausführungen
unterstützt. Dieser Greis wird Hillel genannt, und mir scheint, daß er der
Lehrer oder ein Verwandter Gamaliels ist, weil letzterer ihn vertrauensvoll und
respektvoll behandelt. Die Gruppe des Gamaliel hat großzügigere Ansichten,
während eine andere Gruppe, die zahlreicher ist und von einem gewissen Schammai
geleitet wird, eine enge, heuchlerische und spitzfindige Unnachgiebigkeit
vertritt, wie sie im Evangelium so gut geschildert wird.
Gamaliel
ist von einer dichten Gruppe von Jüngern umringt; er spricht von der Ankunft
des Messias. Gestützt auf die Prophezeiungen Daniels, besteht er darauf, daß
der Messias schon geboren sein müsse (Dan 9), weil seit mehr als zehn Jahren
bereits die geweissagten siebzig Jahrwochen erfüllt seien und zwar seit dem
Dekret über den Wiederaufbau des Tempels. Schammai widerspricht ihm und
behauptet, daß der Tempel wohl wieder aufgebaut, die Knechtschaft Israels
jedoch vermehrt worden und der vorausgesagte Friede nicht zu spüren sei; jener
Friede, den doch, wie die Propheten sagen, der "Friedensfürst" hätte
bringen sollen. Jerusalem werde von einem Feind beherrscht, der es sogar wage,
seine Herrschaft bis in den Tempelbereich vorzuschieben, den er von der Burg
Antonia aus mit seinen römischen Legionären überwache. Letztere seien jederzeit
bereit, jede Art Aufstand für die Unabhängigkeit des Vaterlands mit dem Schwert
niederzuschlagen.
Das lautstarke
Gespräch, voller Haarspaltereien, kommt zu keinem Ende. Jeder Lehrer prunkt mit
seiner Gelehrtheit, nicht so sehr, um den Rivalen zu besiegen, sondern um die
Bewunderung der Zuhörer zu gewinnen. Diese Absicht ist offenkundig.
Aus der Gruppe der
Zuhörer ruft eine frische Knabenstimme: «Gamaliel hat recht!»
Eine Bewegung geht
durch die Menschenmenge und die Gruppe der Lehrer. Man sieht sich nach dem
Zwischenrufer um. Es ist aber nicht nötig, ihn zu suchen; er verbirgt sich nicht.
Er bahnt sich einen Weg und gesellt sich zur Gruppe der Rabbis. Ich erkenne
meinen jugendlichen Jesus. Er erscheint sicher und unbefangen mit seinen
intelligenten, leuchtenden Augen.
«Wer bist du?»
fragen sie ihn.
«Ein Sohn Israels,
der gekommen ist zu erfüllen, was das Gesetz vorschreibt.»
Die begeisterte und
sichere Antwort gefällt und bewirkt Beifall und Wohlwollen. Man ist neugierig
auf das weitere Verhalten des kleinen Israeliten.
«Wie heißt du?»
«Jesus von
Nazareth.»
Das Wohlwollen
erlischt bei der Gruppe des Schammai. Der verständigere Gamaliel jedoch führt
das Gespräch zusammen mit Hillel fort ... ja es ist Gamaliel, der Hillel
ehrerbietig bittet: «Frage du den Knaben etwas!»
«Worauf gründest du
deine Sicherheit?» fragt Hillel.
Jesus: «Auf die
Prophezeiung, die sich in der Zeitangabe nicht irren kann, und auf die Zeichen,
die ihre Verwirklichung begleitet haben. Es ist wahr, daß Caesar uns
beherrscht. Doch die Welt war im Frieden, als die siebzig Jahrwochen erfüllt
waren, so daß Caesar die Volkszählung in Palästina anordnen konnte. Er hätte
dies nicht tun können, wenn in seinem Kaiserreich Krieg geführt worden wäre
oder Palästina einen Aufstand organisiert hätte. Wie die Zeit erfüllt war,
erfüllte sich auch der andere Zeitabschnitt der zweiundsechzig und einer
Jahrwoche seit der Vollendung des Tempels, damit der Messias gesalbt werde und
sich bewahrheite, was die Prophezeiung des weiteren über das Volk, das ihn
nicht haben will, sagt. Könnt ihr darum zweifeln? Erinnert ihr euch nicht, daß
der Stern von den Weisen aus dem Morgenland gesehen wurde und sich wirklich am
Himmel über Bethlehem in Judäa niederließ, und daß die Prophezeiungen und
Gesichte seit der Zeit Jakobs Bethlehem als den Ort der Erfüllung angeben, wo
die Geburt des Messias, des Sohnes des Sohnes des Sohnes Jakobs, erfolgen
sollte? Erinnert ihr euch nicht mehr daran, was Bileam sagt: "Ein Stern
wird aus Jakob geboren werden?" (Num 24,17). Die Weisen aus dem
Morgenland, denen der Glaube und die Reinheit die Augen und die Ohren öffneten,
haben den Stern gesehen und seinen Namen "Messias" verstanden und
sind gekommen, das auf die Welt herabgekommene Licht anzubeten.»
Schammai fragt mit
listigem Blick: «Du sagst, daß der Messias zur Zeit des Sternes über Bethlehem
Ephrata geboren wurde?»
Jesus: «Ich sage
es.»
Schammai: «Dann lebt
er also nicht mehr. Weißt du nicht, Knabe, daß Herodes alle Neugeborenen bis
zum Alter von zwei Jahren in Bethlehem und Umgebung ermorden ließ? Du, der du
die Schrift so gut kennst, mußt doch auch wissen: "Ein Schrei wurde gehört
in der Höhe... Es ist Rachel, die ihre Söhne beweint." (Jer 31,15). Die
Täler und Anhöhen von Bethlehem haben die Tränen der sterbenden Rachel
aufgefangen und sind noch von dem Weinen der Mütter über ihre Kinder erfüllt.
Unter diesen befindet sich bestimmt auch die Mutter des Messias.»
Jesus: «O Greis, du
irrst. Das Wehklagen der Rachel hat sich in Hosanna verwandelt; denn dort, wo
sie den "Sohn ihres Schmerzes" ans Licht brachte, hat die neue Rachel
der Welt den Benjamin des Himmlischen Vaters, den Sohn seiner Rechten, geboren;
den, der berufen ist, das Volk Gottes unter seinem Szepter zu versammeln und es
aus dem schrecklichsten Sklaventum zu befreien.»
Schammai: «Und wie
ist das denn möglich, da er doch getötet wurde?»
Jesus: «Hast du nicht
über Elias gelesen: "Er wurde von einem feurigen Wagen
hinweggenommen?" Wird Gott der Herr nicht seinen Emmanuel gerettet haben,
damit er der Messias seines Volkes werde? Er, der vor Moses das Meer geöffnet
hat, damit Israel trockenen Fußes in sein Land ziehen konnte (Ex 14,15-22),
könnte er nicht auch seine Engel gesandt haben, um seinen Christus vor der
Grausamkeit des Menschen zu bewahren? Wahrlich, ich sage euch: Christus lebt und
ist unter euch, und wenn die Zeit gekommen ist, wird er sich in seiner ganzen
Macht offenbaren.» Bei
diesen Worten, die ich hervorhebe, hat Jesu Stimme eine Kraft, die den ganzen
Raum erfüllt. Seine Augen leuchten noch stärker, und mit einer gebietenden und
verheißungsvollen Geste streckt er seine Rechte aus, wie zum Schwur. Er ist nur
ein Knabe, aber würdevoll wie ein Mann...
Hillel: «Wer hat
dich diese Worte gelehrt, Knabe?»
Jesus: «Der Geist
Gottes. Ich habe keinen menschlichen Lehrer. Es ist das Wort des Herrn, das
durch meine Lippen zu euch spricht.»
Hillel: «Komm zu
uns, damit ich dich aus der Nähe sehe, Knabe, und meine Seele sich erleuchte an
der Sonne deiner Seele!»
Jesus wird nun
eingeladen, auf einem hohen Sitz zwischen Gamaliel und Hillel Platz zu nehmen;
es werden Schriftrollen gebracht, damit er daraus lese und sie erkläre. Es
handelt sich um eine regelrechte Prüfung. Die Menge drängt sich um ihn und hört
zu.
Jesus liest mit
jugendlicher Stimme: «"Tröste dich, mein Volk! Sprecht zum Herzen
Jerusalems! Tröstet es, denn seine Knechtschaft ist zu Ende... Stimme eines Rufenden
in der Wüste: bereite den Weg des Herrn... Dann wird die Herrlichkeit des Herrn
erscheinen..."» (ls 40,1-5)
Schammai: «Da siehst
du es, Nazarener! Hier wird von beendeter Knechtschaft gesprochen. Nie waren
wir Sklaven wie jetzt. Hier wird von einem Vorläufer gesprochen. Wo ist er? Du
redest irre.»
Jesus: «Ich sage
dir: An dich ergeht mehr als an die anderen die Einladung des Vorläufers; an
dich und an deinesgleichen. Sonst wirst du die Herrlichkeit des Herrn nicht
schauen und das Wort Gottes nicht verstehen; denn Niederträchtigkeit, Hochmut
und Doppelzüngigkeit hindern dich daran zu sehen und zu hören.»
Schammai: «So
sprichst du zu einem Lehrer?»
Jesus: «So spreche
ich, und so werde ich reden bis zu meinem Tod; denn über meinem Vorteil steht
das Interesse des Herrn und die Liebe zur Wahrheit, deren Sohn ich bin. Und ich
füge hinzu, Rabbi, daß die Knechtschaft, von der der Prophet spricht und von
der auch ich spreche, nicht die ist, die du meinst, wie auch das Königtum nicht
das sein wird, das du dir vorstellst. Denn durch das Verdienst des Messias wird
der Mensch aus der Knechtschaft des Bösen, die von Gott trennt, befreit werden,
und das Zeichen Christi wird über den Seelen sein, die, befreit von jeglichem
Joch, Untergebene des ewigen Reiches sind. Alle Nationen werden das Haupt
beugen, o Geschlecht Davids, vor dem aus dir geborenen Keim, der zum Baum
heranwachsen, die ganze Erde bedecken und bis zum Himmel sich erheben wird. Und
im Himmel und auf Erden werden alle Stimmen seinen Namen loben, und jedes Knie
wird sich beugen vor dem Gesalbten des Herrn, dem Friedensfürsten, der aus sich
selbst jede müde Seele belebt und jede hungrige Seele sättigt; dem Heiligen,
der einen Bund zwischen Himmel und Erde schließt; nicht einen Bund, wie den mit
den Vätern Israels, als Gott sie von Ägypten befreite und sie noch als Knechte
behandelte; er wird seine himmlische Vaterschaft in den Geist der Menschen
prägen, durch die neu fließende Gnade auf Grund der Verdienste des Erlösers,
durch den alle Guten den Herrn kennen werden. Das Heiligtum Gottes wird nicht
mehr abgebrochen oder zerstört werden.»
Schammai: «Lästere
Gott nicht, Knabe! Denke an Daniel! Er sagt, daß nach dem Tod des Gesalbten der
Tempel und die Stadt zerstört werden von einem Volk und einem Führer, der zu
diesem Zweck kommen wird. Und du sagst, daß das Heiligtum Gottes nicht mehr
niedergerissen wird. Halte dich an die Propheten!»
Jesus: «Wahrlich ich
sage dir, daß es Einen gibt, der mehr ist als die Propheten, und du kennst ihn
nicht und wirst ihn nicht kennen, da dir der Wille dazu fehlt. Ich behaupte,
daß alles, was ich dir gesagt habe, wahr ist. Das wahre Heiligtum wird keine
Zerstörung kennen; es wird wie er, der es heiligt, zum ewigen Leben
auferstehen.»
Hillel: «Höre mich
an, Knabe! Haggai sagt: "Der von den Völkern Ersehnte wird kommen... Groß
wird die Herrlichkeit dieses Hauses sein, und die des letzten mehr als die des
ersten" (Hagg 2,8-10). Ist vielleicht damit das Heiligtum gemeint, von dem
du sprichst?»
Jesus: «Ja, Meister.
Das ist damit gemeint. Deine Redlichkeit wird dich zum Licht führen, und ich
sage dir: Wenn das Opfer Christi vollbracht ist, wird der Friede zu dir kommen;
denn du bist ein Israelit ohne Lüge.»
Gamaliel: «Sage mir,
Jesus: Der Friede, von dem die Propheten sprechen, wie kann man ihn erhoffen,
wenn der Krieg dieses Volk zerstört? Sprich und erleuchte auch mich!»
Jesus: «Erinnerst du
dich nicht mehr daran, Meister, was jene erzählten, die zugegen waren in der
Nacht von Christi Geburt? Die Engelchöre sangen: "Friede den Menschen, die
guten Willens sind!" Aber der Wille dieses Volkes ist nicht gut, und so
wird es auch keinen Frieden haben. Es wird seinen König, den Gerechten, den
Erlöser verkennen, da es einen König voll menschlicher Macht erwartet, während
er der König des Geistes ist. Dieses Volk wird ihn nicht lieben, da Christus
predigen wird, was ihm nicht gefällt. Christus wird nicht gegen Feinde kämpfen,
die mit Wagen und Pferden ausgerüstet sind, sondern gegen die Feinde der Seele,
die das Menschenherz, das für Gott erschaffen worden ist, zu teuflischen
Genüssen verführen. Das ist nicht der Sieg, den Israel vom Messias erwartet. Er
wird kommen,
Jerusalem, dein König und "auf der Eselin und auf dem Füllen reiten"
(Zach 9,9), womit die Gerechten Israels und die Heiden gemeint sind. Aber das
Füllen, sage ich euch, wird ihm treuer sein als die Eselin, und es wird ihm
folgen, und es wird wachsen auf dem Weg der Wahrheit und des Lebens. Israel
wird wegen seines schlechten Willens den Frieden verlieren und durch Jahrhunderte
das erleiden, was es an Leiden seinem König bereitet hat, den es so zum Mann
der Schmerzen, von dem Isaias spricht, gemacht hat.»
Schammai: «Dein Mund
riecht nach Milch und Gotteslästerung, Nazarener. Antworte mir: Wo ist der
Vorläufer? Wann werden wir ihn haben ?»
Jesus: «Er ist schon
da. Sagt nicht Maleachi: "Siehe, ich sende meinen Boten vor mir her, daß
er meinen Weg ebne, und sofort wird zu seinem Tempel der von euch erwartete
Herrscher und der von euch ersehnte Engel des Bundes kommen?" Also kommt
der Vorläufer kurz vor Christus. Er ist schon da, wie auch Christus selbst.
Wenn Jahre zwischen dem, der die Wege des Herrn bereitet, und Christus lägen,
dann würden diese Wege bis dahin wieder uneben sein. Gott weiß es und hat
beschlossen, daß der Vorläufer dem Meister nur eine Stunde voraus sein soll.
Wenn ihr diesen Vorläufer seht, könnt ihr sagen: "Die Sendung Christi hat
begonnen." Dir sage ich: Christus wird viele Augen und viele Ohren öffnen,
wenn er auf diesen Straßen wandelt; doch nicht die deinen und die deiner
Gleichgesinnten, die ihr ihm den Tod bereitet für das Leben, das er euch
bringt. Noch erhabener als dieser Tempel, erhabener als das Allerheiligste, das
im Heiligsten eingeschlossen ist, erhabener als die von Cherubim getragene "Herrlichkeit"
wird der Erlöser auf seinem Thron und auf seinem Altar sein. Dann wird Fluch
den Gottesmördern und Leben den Heiden aus seinen tausend und tausend Wunden
zufließen; denn er, du weißt es nicht, o Meister, er ist nicht der König eines
menschlichen, sondern eines geistigen Königreiches, und seine Untergebenen sind
ausschließlich die, die durch seine Liebe sich im Geist erneuern und wie Jonas,
nachdem sie schon geboren waren, wiedergeboren werden im Reich Gottes durch
eine geistige Zeugung, die durch Christus vollzogen wird, der der Menschheit
das wahre Leben schenken wird.»
Schammai und seine
Anhänger: «Dieser Nazarener ist Satan!»
Hillel und die
seinen: «Nein, dieser Knabe ist ein Prophet Gottes. Bleibe bei uns, Kind! Mein
Alter wird dein Wissen dem seinen einverleiben, und du wirst Lehrer des Volkes
Gottes sein.»
Jesus: «Wahrlich ich
sage euch: Wenn viele wären wie du, würde Heil über Israel kommen. Doch meine
Stunde ist noch nicht da. Zu mir sprechen die Stimmen des Himmels, denen ich in
der Einsamkeit lauschen muß, bis meine Stunde gekommen ist. Dann werde ich mit
meinem Mund und meinem Blut zu Israel sprechen, und mein Los wird das der
Propheten sein, die gesteinigt und getötet wurden. Doch über meinem Dasein
schwebt Gott, der Herr, dem ich mich als treuer Knecht unterwerfe, damit er die
Welt zum Schemel der Füße Christi mache. Erwartet mich in meiner Stunde! Diese
Steine werden meine Stimme wieder hören und bei meinem letzten Wort erzittern.
Selig, die in dieser Stimme Gott gehört haben und durch sie an ihn glauben!
Ihnen wird Christus das Reich geben, das euer Egoismus als menschliches träumt,
während es himmlisch ist. Ich lege dafür dieses Zeugnis ab: "Hier ist dein
Diener, o Herr, der gekommen ist, deinen Willen zu erfüllen. Vollziehe ihn,
denn ich brenne darauf, ihn zu erfüllen!"»
Und hier endet die
Vision mit Jesus, der seine Arme und sein Antlitz, das von geistiger
Leidenschaft glüht, zum Himmel erhebt und aufrecht mitten unter den bestürzten
Gelehrten steht.
DER SCHMERZ MARIAS, WEIL JESUS FEHLT
Jesus sagt:
(...) Du siehst die Angst Marias, als sie beim
Zusammentreffen der Frauen und Männer feststellt, daß ich nicht bei Joseph war.
Sie erhebt nicht die Stimme in bitteren Vorwürfen gegen den Gefährten. Alle
Frauen hätten dies getan. Ihr tut es geringer Dinge wegen.
Doch der Schmerz, der auf dem Antlitz Marias liegt,
durchbohrt Joseph mehr als jeder Vorwurf. Maria ergeht sich nicht in
dramatischen Szenen. Doch ihr zurückgehaltener Schmerz ist offenkundig im
Zittern, das sie befällt, im erbleichenden Antlitz mit den geöffneten Augen,
das mehr Mitleid erregt als Tränen und Gejammer. (...)
Nach drei Tagen, symbolisch für die drei künftigen Tage
der Angst, kommt Maria erschöpft in den Tempel und durcheilt die Höfe und
Hallen. Nichts! ... Die arme Mutter läuft nach allen Richtungen, von wo sie
eine Knabenstimme zu vernehmen meint. Selbst das Blöken der Lämmlein kommt ihr
wie Kinderweinen vor. Doch Jesus weint nicht. Er lehrt. Da hört Maria hinter
einer Schranke von Menschen die vertraute Stimme, die soeben sagt: "Diese
Steine werden erzittern..." Sie versucht, die Menge zu zerteilen. Es
gelingt ihr nach großer Mühe. Da steht ihr Sohn mit ausgebreiteten Armen
inmitten der Gelehrten.
Maria ist die "kluge Jungfrau". Doch diesmal
überwindet der Kummer ihre gewohnte Zurückhaltung. Sie überwindet alle
Hindernisse. Sie eilt zu Jesus, umarmt ihn, hebt ihn vom Stuhl hoch, stellt ihn
auf den Boden... und sagt: "Warum hast du uns das getan? Seit drei Tagen
suchen wir dich. Deine Mutter stirbt vor Kummer, Sohn! Dein Vater ist
erschöpft! Warum, Jesus?"
Man fragt Den nicht nach dem "Warum", der weiß.
Berufene fragt man nicht, warum sie alles verlassen haben, um der Stimme Gottes
zu folgen. Ich war die Weisheit und ich wußte. Ich war "berufen" zu
einer Sendung und erfüllte sie. Über dem irdischen Vater und der leiblichen
Mutter war Gott, der göttliche Vater. Seine Interessen sind gewichtiger als
unsere; seine Zuneigungen sind über alles erhaben. Ich sage es meiner Mutter.
Ich beendige die Unterweisung der Gelehrten mit der Unterweisung Marias, der
Königin der Gelehrten. Und sie hat es nie vergessen. Die Sonne war in ihr Herz
zurückgekehrt, während sie meine Hand, demütig und gehorsam, hielt; aber meine
Worte sind ihr im Herzen geblieben.
Viel Sonne und viele Wolken wandern am Himmel in den 21
Jahren, die ich noch auf Erden verbringe. Viel Freude und viel Schmerz wechseln
sich in ihrem Herzen in diesen 21 Jahren ab. Doch sie wird nie mehr fragen:
"Warum hast du uns dies angetan, mein Sohn?"