JESUS SPRICHT ZU WEGELAGERERN
aus Kap.264: 2. Lehrjahr, Sommer
«Im Ort, zu dem wir gehen, werde
ich reden», sagt Jesus, während die Gruppe immer tiefer in Täler eindringt, die
das Gebirge mit schwierigen, steinigen, engen Pfaden durchziehen. Sie steigen an
und fallen ab, die Aussicht verdeckend und wieder freigebend, solange, bis sie
zu einem tiefen Tale gelangen nach einem steilen Abstieg, auf dem sich nur der
Widder wohl fühlt, wie Petrus sagt. Die Gruppe rastet dort und nimmt an einer
wasserreichen Quelle ihre Mahlzeit ein.
Andere Leute sind
auf den Wiesen und im Wald und halten Mahlzeit wie Jesus und die Seinen. Es muß
ein bevorzugter Rastplatz sein, er ist vor Winden geschützt, hat weiche Rasen
und Wasser. Es sind Pilger da, auf dem Weg nach Jerusalem. Reisende, die sich
vielleicht zum Jordan begeben, Händler mit Lämmern, die für den Tempel bestimmt
sind, und Hirten mit ihren Herden. Einige machen die Reise auf Reittieren, die
meisten jedoch zu Fuß. Es kommt auch ein festlich geschmückter Hochzeitszug.
Gold leuchtet unter dem Schleier, der die Braut verhüllt. Sie ist noch fast ein
Mädchen, das von mit glitzernden Armreifen und Halsketten behangenen zwei
Matronen und von einem Mann, anscheinend dem Brautführer, sowie zwei Dienern
begleitet wird. Sie sind auf Eseln angekommen, die mit Bändern und Glöckchen
geschmückt sind; alle lassen sich in einer Ecke zum Essen nieder, als ob sie
fürchteten, daß die Blicke der Anwesenden das Bräutchen beunruhigen könnten.
Der Brautführer oder Verwandte hält Wache, während die Frauen beim Essen sind.
Einer unter den Anwesenden fragt einen
anderen, der über die Verhältnisse der Hochzeitsgesellschaft Bescheid weiß, aus
und erfährt viele Einzelheiten. Anschließend entfernt er sich. Bartholomäus
äußert sich mißtrauisch:
«Mir hat der Mann
nicht gefallen, der den anderen Dummkopf dort zum Reden gebracht hat. Nachdem
er alles erfahren hatte, was er wissen wollte, ist er den Bergpfad
hinaufgegangen... Wir sind in einer gefährlichen Gegend. Und die Stunde ist
günstig für einen Überfall der Wegelagerer. Die Mondnacht, die ermüdende Hitze
des heutigen Tages, die dichtbelaubten Bäume... Hm! Mir gefällt dieser Platz
nicht. Wir hätten besser daran getan, weiterzugehen.»
(...)
Viele der Lagernden,
besonders die Alleinreisenden, haben sich erhoben und sind aufgebrochen. Es
bleiben die Hirten mit den Herden, die Braut mit ihren Begleitern, die
apostolische Gruppe und die drei Händler mit Lämmern, die schon schlafen. Auch
die Braut schläft mit den Matronen in einem Zelt, das die Diener aufgerichtet
haben. Die Apostel suchen sich einen Platz. Jesus zieht sich zum Gebet zurück.
Die Hirten zünden inmitten der Wiese, wo sie sich aufhalten, ein großes Feuer
an. Petrus und Simon bereiten ein anderes vor beim Pfad, den der Mann
eingeschlagen hat, der Bartholomäus mißtrauisch machte.
Die Stunden
vergehen, und wer nicht schnarcht, läßt den Kopf sinken. Jesus betet. Es
herrscht völlige Stille. Sogar die Quelle, die im Mondlicht glänzt, scheint zu
schweigen. Der Mond steht jetzt hoch am Himmel und beleuchtet den ganzen Platz,
während die Ränder im Schatten des dichten Gebüsches liegen.
Ein großer
Schäferhund knurrt. Ein Hirt hebt den Kopf. Der Hund steht auf, sträubt das
Fell, wittert etwas und nimmt eine abwehrende Haltung ein. Er zittert; das
Knurren in seinem Innern wird immer stärker. Auch Simon hebt den Kopf und
rüttelt Petrus wach, der eingeschlummert ist. Ein leises Rascheln kommt aus dem
Wald.
«Wir wollen zum
Meister gehen und ihn zu uns herholen», sagen die beiden.
Inzwischen weckt der
Hirte seine Kameraden. Alle lauschen, ohne selbst ein Geräusch zu verursachen.
Jesus hat sich erhoben, schon bevor er gerufen wurde; er geht den beiden
Aposteln entgegen. Sie versammeln sich mit den Gefährten bei den Hirten, deren
Hund immer erregter ist.
«Ruft die Schlafenden.
Alle! Sagt ihnen, sie sollen hierher kommen, ohne Lärm zu machen; besonders die
Frauen und die Diener mit den Kisten. Sagt ihnen, daß vielleicht Räuber in der
Nähe sind. Nicht den Frauen, aber allen Männern!»
Die Apostel
entfernen sich, dem Meister gehorchend, der den Hirten sagt: «Schürt das Feuer
zu einer großen Flamme!»
Die Hirten
gehorchen; da sie aufgeregt sind, sagt Jesus: «Fürchtet euch nicht! Es wird
euch kein Wollflöckchen weggenommen!»
Die Händler kommen
herbei und flüstern: «Oh, unser ganzer Verdienst», und fügen eine Litanei von
Schimpfwörtern bei auf die römische Verwaltung und die Juden, die die Welt von
den Räubern nicht säubern.
«Habt keine Angst,
ihr verliert auch nicht die kleinste Münze», tröstet sie Jesus.
Die ängstlichen
Frauen kommen. Sie weinen, denn der mutige Brautführer zittert vor Angst und
jammert ohne Unterlaß: «Das ist der Tod! Der Tod von Räuberhand!»
«Fürchtet euch
nicht. Ihr werdet nicht einmal von einem Blick gestreift», tröstet Jesus die
Frauen und führt sie in die Mitte der kleinen Versammlung von Männern und
verängstigten Tieren.
Die Esel schreien,
der Hund heult, die Schafe blöken, die Frauen schluchzen, die Männer fluchen
und klagen, mehr sogar als die Frauen, in einem unverständlichen lautstarken
Geschwätz. Jesus ist ruhig, als ob nichts bevorstände. Das Geräusch im Wald ist
bei diesem Lärm nicht mehr vernehmbar. Aber Äste, die gebrochen werden, oder
die Steine, die ins Rollen geraten, verraten, daß im Wald Räuber sich nähern.
«Ruhe!» gebietet
Jesus. Er sagt es auf eine Weise, daß sofort Ruhe herrscht. Jesus verläßt
seinen Platz und geht zum Waldrand, wo er zu reden beginnt.
«Das bösartige
Verlangen nach Gold verleitet die Menschen zu verwerflichen Taten. Das Gold
entlarvt den Menschen mehr als alles andere. Seht, wieviel Unheil dieses Metall
mit seinem gleißenden, unnützen Glanz anrichtet. Ich glaube, daß die Luft der
Hölle die Farbe des Goldes hat, so höllisch scheint es zu sein seit der Mensch
zum Sünder geworden ist. Der Schöpfer hatte es in die Eingeweide des enormen
Lapislazuli, der die Erde ist, eingebettet, bei der Erschaffung, damit es dem
Menschen diene und den Tempel schmücke. Aber Satan, der die Augen Evas küßte
und das Ich des Mannes befleckte, gab dem unschuldigen Metall einen bösartigen
Geschmack. Seitdem mordet und sündigt man des Goldes wegen. Die Frau wird des
Goldes wegen zur Verführerin und ist zur Sünde des Fleisches bereit. Der Mann
wird seinetwegen zum Dieb, zum Wucherer und Mörder; er wird hartherzig gegen seinen
Nächsten und seine eigene Seele, die er ihres wahren Erbes beraubt; er bringt
sie um den ewigen Schatz, für einige gleißende, wertlose Splitter, die er am
Tag des Todes zurücklassen muß.
O ihr, die ihr des
Geldes wegen mehr oder weniger schwer sündigt! Je mehr ihr sündigt, um so mehr
verspottet ihr, was eure Mütter oder eure Lehrer euch gelehrt haben: daß es
einen Lohn oder eine Strafe gibt für das während des Lebens Getane. Ihr denkt
nicht daran, daß ihr wegen der Sünden den Schutz Gottes, das ewige Leben und
die ewige Glückseligkeit verliert; daß Gewissensbisse und Fluch das Herz
belasten und die Angst eure Begleiterin ist; die Angst vor menschlichen
Strafen, die immer doch ein Nichts sind im Vergleich zur Angst, die ihr haben
müßt und nicht habt: der heilsamen Angst vor der göttlichen Strafe. Ihr denkt
nicht daran, daß euer Ende schrecklich sein wird als Strafe für eure Untaten,
wenn sie Verbrechen geworden sind; und das Ende ist um so schrecklicher, weil
es ewig dauert, selbst wenn ihr bei euren Untaten aus Liebe zum Gold nicht bis
zum Blutvergießen gegangen seid, sondern nur das Gesetz der Liebe und der
Achtung des Nächsten mißachtet habt, statt jenen zu helfen, die hungern wegen
eures Geizes, eurer Laster und eurer Habgier. Nein, ihr denkt nicht daran! Ihr
sagt: "Das sind Märchen. Ich habe diese Märchen unter dem Gewicht meines
Goldes begraben. Sie leben nicht mehr." Aber es sind keine Märchen, es ist
die Wahrheit!
Sagt nicht:
"Wenn ich tot bin, ist alles zu Ende." Nein, dann beginnt alles! Das
andere Leben ist kein Abgrund ohne Sinn und ohne Erinnerung an die gelebte
Vergangenheit, ohne Verlangen nach Gott, wie ihr euch die Zeitspanne der
Erwartung (=bis zur Ankunft) des Erlösers vorstellt. Das andere Leben
ist selige Erwartung für die Gerechten, geduldige Erwartung für die Büßenden,
qualvolle Erwartung für die Verdammten. Für die ersteren in der Vorhölle, für
die zweiten im Fegfeuer, und für die letzten in der Hölle. Und während für die
ersten die Erwartung mit dem Einzug des Erlösers in den Himmel endet, wird bei
den zweiten die Erwartung nach dieser Stunde durch die Hoffnung viel
tröstlicher, während für die dritten die Erwartung mit der schrecklichen
Gewißheit der ewigen Verdammnis endet. Denkt daran, ihr Sünder! Es ist nie zu
spät, um zu bereuen. Ändert das Urteil, das im Himmel für euch geschrieben
wird, durch eine wahre Reue. Das Fegfeuer wird für euch nicht die Hölle,
sondern reuevolle Erwartung sein. Nicht Dunkel, sondern Morgendämmerung. Nicht
Trennung, sondern Heimweh. Nicht Verzweiflung, sondern Hoffnung.
Geht! Versucht
nicht, gegen Gott zu kämpfen. Er ist der Starke und der Gute. Schändet den
Namen eurer Eltern nicht. Hört, wie diese Quelle seufzt; ein Seufzer, gleich
dem, der die Herzen eurer Mütter zerreißt, wenn ihr zu Mördern werdet. Hört,
wie der Wind in der Schlucht pfeift. Es scheint, daß er droht und verflucht,
wie euch der Vater verflucht wegen des Lebens, das ihr führt. Hört, wie das
Gewissen in euren Herzen heult. Warum wollt ihr leiden, wenn ihr mit wenig im
Frieden auf Erden leben könntet, um dann im Himmel alles zu haben? Gebt eurer
Seele Frieden! Gebt Frieden den angstvollen Menschen, die euch wie Raubtiere
fürchten müssen! Gebt euch Frieden, ihr armen Unglücklichen! Erhebt den Blick
zum Himmel, entfernt den Mund von der vergifteten Speise und reinigt die Hände,
die vom Blut des Bruders triefen. Reinigt euer Herz!
Ich vertraue euch!
Daher rede ich zu euch. Denn wenn die ganze Welt euch haßt und fürchtet, ich
hasse und fürchte euch nicht. Ich strecke euch die Hand entgegen, um euch zu
sagen: "Erhebt euch! Kommt! Kehrt friedlich zu den Menschen zurück, als
Menschen zu Menschen." Ich fürchte euch so wenig, daß ich jetzt zu diesen
Leuten sagen kann: "Kehrt zur Ruhe zurück, ohne Haß gegen die armen
Brüder. Betet für sie. Ich bleibe hier, um sie mit den Augen der Liebe
anzublicken, und ich schwöre euch, daß nichts geschieht; denn die Liebe
entwaffnet die Gewalttätigen und sättigt die Gierigen. Die Liebe, die wahre
Macht in der Welt, sei gepriesen! Diese unbekannte Macht! Eine Macht, die Gott
gehört."»
Dann wendet Jesus
sich an alle: «Geht, geht! Fürchtet euch nicht. Es sind keine Landstreicher
mehr hier, nurmehr erschütterte, weinende Männer! Wer weint, tut nichts Böses.
Gebe Gott, daß sie bleiben, wie sie jetzt sind! Es wäre ihre Rettung!»