Cay Rademacher, Wer war Jesus? – Der Mensch
und der Mythos
In GEO 2004/1
Der folgende Kommentar entspricht einem(fast) gleichlautenden
Leserbrief an die Zeitschrift GEO. Er will aufzeigen, daß sich GEO mit
Rademachers Aufsatz auf ein Gebiet begeben hat, wozu der Zeitschrift und dem
Verfasser jegliche geistige Voraussetzung und Kompetenz fehlen.
Cay Rademachers Artikel über Jesus erfüllt leider nicht den
Anspruch seriöser Wissenschaftlichkeit. Denn die vielen, außerhalb der
Evangelien recherchierten historischen Sachinformationen erzeugen lediglich
einen Schein von Wissenschaftlichkeit, insofern sie letztlich als Mittel zum Zweck
unbegründeter Schlußfolgerungen und phantasievoller Deutungen dienen. Da z.B.
keine Volkszählung vor dem Tod des Herodes geschichtlich überliefert ist, wird
Bethlehem als Geburtsort Jesu unverzüglich als Erfindung des Evangelisten Lukas
bezeichnet. Es gilt jedoch das logische Prinzip anzuerkennen, daß nicht alles,
was sich geschichtlich ereignet hat, auch überliefert sein muß.
Die
Problematik des Artikels, die auch die des Verfassers ist, verdichtet sich in
einem Satz auf der letzten Seite (S.162): "Für Wissenschaftler, die wissen
und nicht glauben wollen, bleibt die Auferstehung letztlich rätselhaft."
Herr Rademacher versteht sich also als Wissenschaftler, der durch seinen Essay
über Jesus der Wissenschaft einen wertvollen Dienst erweisen will. Wissenschaft
hält er für die Garantin objektivster Erkenntnis, insofern sie sich auf
überprüfbare Beweisgründe stützt. Demgegenüber fehle einem Glaubensinhalt
objektive Beweiskraft.
Die
Gegenüberstellung von scheinbar objektiver Wissenschaft und subjektivem Glauben
hat zwei Wurzeln, zum einen die Überbewertung von Naturwissenschaft und
Technik, zum andern den Freiheitsbegriff des Individualismus, wie er sich in
der heutigen als pluralistisch bezeichneten Gesellschaft entwickelt hat. Beide
bedingen sich, indem das Individuum die Möglichkeit sieht, seine Fähigkeiten in
naturwissenschaftlicher und technischer Hinsicht zu entfalten und sein Leben
mit Wissen, technischen Neuheiten und unerschöpflichen Erlebnismöglichkeiten
auszufüllen. Ein solcher Individualismus ist nach weitgehender Aufgabe ideellen
Denkens einer trügerischen Autonomie und Selbstzufriedenheit verfallen und hat
sich erneut in eine "selbstverschuldete Unmündigkeit" begeben, aus
der der Philosoph Immanuel Kant das Denken herausführen wollte.
Die
individualistische Mentalität ignoriert eine 2500-jährige Geschichte des
Denkens, das mittels seiner eigenen Möglichkeiten allgemeingültige Aussagen
über Grundfragen der menschlichen Existenz und der Natur zu finden versuchte.
Sokrates erschloß durch die Logik seines Denkens die Unsterblichkeit der Seele,
Platon den Kosmos unwandelbarer Ideen und Aristoteles Gott als den unbewegten
Beweger und letzten Seinsgrund. Die stoische Philosophie entwickelte die
Vorstellung von Gott als Lenker des Weltalls und als dem Vater der Menschen,
wie er im Zeushymnus des Kleanthes genannt
wird. Cicero schließlich verfaßte eine Lobeshymne auf die Philosophie als Lehrmeisterin des Lebens.
Von diesem geistesgeschichtlichen
Hintergrund aus ist die Selbstoffenbarung Gottes durch die Menschwerdung der
zweiten göttlichen Person als Vollendung dessen zu verstehen, was menschliches
Denken allein nicht zu leisten vermochte.
Gerade das
200. Todesjahr Immanuel Kants sollte nicht in Vergessenheit geraten lassen, daß
noch vor zwei Jahrhunderten die Philosophie als Prinzipienwissenschaft allen
Einzelwissenschaften vorangestellt wurde.
Heute aber
gilt die Selbstvergewisserung des Geistes aus den philosophischen Leistungen
des Denkens nichts mehr. Statt dessen herrschen ein irrationaler
Evolutionsglaube und die Faszination des Endlichen, vom Mikrokosmos bis zum
Makrokosmos, von der Forschung bis zu ihrer technischer Umsetzung, von
materiellem Besitzstreben bis zur Nachahmung irdischer Idole. Der
Evolutionsglaube umfaßt die Entstehung und Entwicklung des Kosmos, aber auch
die kulturelle und geistige Entwicklung der Menschheit, worin die Religion
einen besonderen Platz einnimmt.
Dieser
durchgängige, irgendwie gesteuerte Kulturmechanismus hat nach den Vorstellungen
moderner Religionskritiker auch das Christentum hervorgebracht.
Eine solche
auf kulturelle Evolution eingeengte Geisteshaltung führt – auf ausgetretenen
Pfaden – Herrn Rademacher und nicht weniger seine Auftraggeber zu einer
Trennung zwischen Jesus, dem Menschen, und dem Mythos. Wenn man die Person
nicht ausreichend erfassen kann, so doch den Mythos, der mit der
Wissenschaftsmaxime religiöser Evolution in den Griff zu bekommen ist. Der
Mythos hat demnach in den Evangelien seinen literarischen Niederschlag
gefunden. Im Gegensatz zu profanen Historikern wie Flavius Josephus, Tacitus,
Plinius und Sueton erkennt Rademacher die Evangelisten im wesentlichen nicht
als Gewährsleute für historische Wahrheit an. Sie schreiben so viele Jahre nach
dem Tod Jesu, daß ihre Berichte gar nicht zuverlässig sein können. Nein, sie
sind darum bemüht, ihre Botschaft durch geschickte Anpassung an die römische
Mentalität "erfolgreich" zu machen. "Nicht mit dem historischen Jesus gewinnen die Christen
neue Anhänger, sondern mit dem Jesus der
Evangelien." Wenn man die Evangelien als biographisch unzuverlässig
erklärt, kann man natürliches alles, was nicht in die Vorstellung eines Autors
über den historischen Jesus hineinpaßt, bequem als Irrtum, Zutat und
Fälschungswerk der Evangelisten erklären.
Was bleibt
nun vom historischen Jesus übrig, nachdem er von der propagandistischen
Wirksamkeit der Evangelien als der Hauptursache für den Siegeslaufs des
Christentums abgetrennt wurde? Hier muß man sich in die geistige Situation des
Verfassers versetzen. Würde er etwa eine Biographie über Kepler, Rembrandt,
Goethe oder Bismarck schreiben, hätte er keine Schwierigkeit, ihre menschliche
Größe und die Bedeutung ihrer Leistungen anzuerkennen. Was man aber anerkennt,
das entspricht den eigenen Wertvorstellungen und Überzeugungen.
Wertüberzeugungen aber stehen synonym für das, woran man glaubt. Ein solcher
Glaube ist noch kein religiöser Glaube. Jesus aber ist ein Religionsgründer und
sein Anspruch, göttlichen Ursprungs zu sein, sprengt irdische
Beurteilungsmaßstäbe. Jesu Persönlichkeit ist demnach weltverhaftetem Denken
überhaupt nicht faßbar, sondern eben nur von der Ebene seines gottmenschlichen
Anspruchs her. Dies aber erfordert Glauben. Der aber ist dem historischen
Wissenschaftler Rademacher verwehrt, da er wissen und nicht glauben will. Da
aber Glaube und Wertüberzeugungen dasselbe sind, kann, ja darf er in Jesus
keine eigene Wertüberzeugungen entdecken. Denn damit
würde er gegen die Objektivität seiner Wissenschaftskonzeption verstoßen, die
nur Wissen, aber keinen Glauben zuläßt. Das Ergebnis seiner Würdigung des
historischen Jesus ist leicht zu erraten: eine persönlichkeitsentkernte,
schemenhafte Gestalt der Geschichte, "in jeder Hinsicht eine
Randfigur". Nirgendwo in seinem Artikel läßt der Verfasser
eine Regung der Sympathie für den armen Jesus erkennen. Rademachers Gesinnung
gleicht der vieler Juden, Pharisäer und Schriftgelehrten, die Jesu Wunder
sahen, seine Worte hörten, aber Anstoß an seiner Herkunft nahmen: "Ist das nicht der Sohn des
Zimmermanns?"(Mt 13,55); "Von dem hier wissen wir, woher er stammt;
wenn jedoch der Messias kommt, weiß niemand, woher er stammt" (Joh 7,27).
Wie steht
der wissenschaftliche Journalist Rademacher zu den 2 Milliarden Menschen, die
sich heute zum Christentum bekennen? Die Faktizität dieser großen Zahl und
ebenso die Glaubenslehre selbst, die das Christentum ausmacht, lassen ihn
merkwürdig verstummen. Nicht Jesu Worte und Taten beglaubigen seine Leben als
ganzes, sondern die historische Wissenschaft ist für den Verfasser das Maß
aller Dinge. Der Glaube der Christen steht also unter historischem Vorbehalt.
Rademacher besteht hartnäckig auf der Überlegenheit der historischen
Wissenschaft über den Glauben. Sein Credo ist die Wissenschaft, der allein die
Zukunft der Menschheit gehört. Wenn seine Forschungen ergeben, daß sich vieles,
was Christen über Jesus und die Evangelien glauben, in Wahrheit anders verhält,
so glaubt er, dem wissenschaftlichen Fortschritt einen Dienst erwiesen zu
haben. So wird ihm Wissenschaft zur ethischen Selbstrechtfertigung.
Herr
Rademacher steht ungläubig der Tatsache gegenüber, daß unzählige Menschen an
Jesus und seine Lehre glauben und danach ihr Leben gestalten. Er befragt jedoch
keine Glaubenszeugen, um herauszufinden, was ihre Glaubensstärke ausmacht. Er
steht auf der anderen Seite, auf der Seite der historischen Wissenschaft, die
er so interpretiert, daß die Bedeutung einer Person nur aus den verfügbaren
biographischen Daten ermittelt werden könne. Selbst seine historischen
Gewährsleute beurteilt er danach, wieviele biographische Angaben sie
beizutragen haben. Paulus und der Evangelist Johannes beispielsweise kommen
hierin nicht ohne Kritik weg.
Was tut ein
Historiker, wenn ihm zu wenig biographisches Material zur Verfügung steht? Oder
vielmehr, was tut Rademacher? Er füllt die Lücken mit Vermutungen, was er
offensichtlich nicht für unvereinbar mit dem sicheren Wissen seiner
Wissenschaft hält. So mutmaßt er, daß Jesus, "wie wohl all seine Mitbürger
in Nazareth, nur in gewissem Umfang lesen und schreiben" konnte. Später
spekuliert er darüber, was Jesus wohl bewogen haben könnte, im Alter von 30
Jahren seinen Heimatort zu verlassen. Er überlegt, ob nicht traumatische Erlebnisse
seiner Kindheit ihn später dazu veranlaßten, sich Außenseitern der Gesellschaft
zuzuwenden. Dieser mutmaßende Stil setzt sich stereotyp fort, so daß die
Sicherheit des biographischen Ergebnisses darin zu bestehen scheint, daß es
keine Sicherheit gibt. Unsicherheit aber läßt auch die Lehre unsicher
erscheinen.
Natürlich
geht Herr Rademacher davon aus, daß Jesus nicht drei Jahre, sondern nur ein
Jahr öffentlich wirkte. Er stellt sich vor, daß Jesus "nach rund einem
Jahr an einem toten Punkt angekommen ist." Jesu Entschluß, zum Passahfest
nach Jerusalem zu ziehen, bezeichnet er als "Verzweiflungstat eines
Mannes, der in seiner Heimat gescheitert ist." Er ist sich auch sicher,
daß Jesus nicht durch seine Lehre, sondern durch sein vehementes Vorgehen gegen
die Tempelhändler sein Schicksal besiegelt hat. Die Ergreifung Jesus bedurfte
nach seinem historischen Dafürhalten der Mithilfe eines Anhängers, des Judas,
da Jesus in Jerusalem zu unbekannt war, um ihn auf andere Weise identifizieren
zu können.
Religionsgeschichte
ist nach dem Verständnis des Verfassers ein determinierter evolutionärer
Prozeß. Determiniert heißt hier naturgesetzlich festgelegt. Ein Naturgesetz
aber gibt Sicherheit, es muß nicht jedesmal bewiesen werden.
Religion
hat es mit Mächten zu tun, die, außerhalb des Irdischen stehend, irdisches
Geschehen lenken und beeinflussen. Die Menschen nennen diese Mächte Gott bzw.
Götter und wollen sie für sich gnädig stimmen. Die antiken Kulturen haben eine
Fülle von Gottheiten hervorgebracht, für deren Nicht-Existenz heute kein Mensch
einen Beweis fordert. Der Trugschluß freilich, dem Religionskritiker allzugern
erliegen, ist, daß, wenn all diese Gottheiten nicht existieren, gar keine
göttliche Macht existiert.
Wenn wir
nun gesehen haben, daß Herr Rademacher wenig biographische Sicherheit für das
Leben Jesu zu bieten hat, so darf man nicht glauben, daß für ihn gar nichts als
sicher feststeht. Außer einigen Eckdaten, die er bei römischen Historikern und
den Evangelisten selbst vorfindet, steht für ihn vor allem fest, daß Jesus ein
leiblicher Sohn Josephs war und vier Brüder und zwei Schwestern hatte. Die
bekannte Tatsache, daß im biblischen Sprachgebrauch Brüder und Schwestern auch
nahe Verwandte bedeuten, übergeht er geflissentlich.
Die
übernatürliche Zeugung Jesu in der Jungfrau Maria ist von evolutionärer
Perspektive in unvermeidlicher Anpassung an den griechischen Mythos entstanden.
Es ging ja nach Ansicht des Verfassers den Evangelisten darum, ihre Botschaft
möglichst attraktiv zu machen, und da macht sich ein durch göttliches Wirken
hervorgegangener Religionsstifter und Wundertäter neben Herakles und anderen
mythischen Helden ganz vortrefflich.
Um sein
Jesusbild glaubwürdig zu machen, braucht Cay Rademacher die Unterstützung durch
Theologen, die er synonym auch Wissenschaftler nennt. Einige von ihnen führt er
namentlich an, an anderen Stellen wie beim Verweis des Kindermordes von
Bethlehem ins fromme Reich der Legende, spricht er allgemein von den
"meisten Theologen". Es ist nicht klar, wie Herr Rademacher zu dieser
statistischen Angabe gelangt, aber es gibt genug andere Theologen, die an der
Authenzität der Evangelienberichte nicht zweifeln. Daß es unter den heutigen
Theologen in wichtigen Lehrsätzen und in der Wertung der Evangelientexte
gegensätzliche und miteinander unvereinbare Auffassungen gibt, ist zwar höchst
bedauerlich, aber für den kundigen Zeitgenossen schon eine so vertraute
Realität, daß er eigentlich der Mühe des Vergleichs gegensätzlicher Positionen
enthoben ist und sich lediglich zu entscheiden braucht, ob er auf die eine oder
auf die andere Sorte von Theologen hören möchte. Cay Rademacher macht es vor.
Den
übergeordneten Horizont für Rademachers Artikel liefert das Editorial von
Peter-Matthias Gaede. Zwei etwas nebulöse Sätze enthalten das Thema Rademachers:
"Rademacher war
sich dabei bewusst, dass jeder öffentliche Versuch, die historische Figur des
Jesus von Nazareth in ihrer Zeit zu rekonstruieren, mit dem Problem
konfrontiert ist, dass 'der historische und der geglaubte Jesus im Bewusstsein
vieler Menschen auseinander fallen', wie es einer der von uns zu Rate gezogenen
Theologen schreibt. Dass ein solcher Versuch also entweder auf die Befürchtung
treffe, die Forschung könne den Glauben sabotieren. Oder, andererseits, auf
einen Glauben, der Widerstand leiste gegen jede rationale, womöglich profane
Erkenntnis."
In welcher
Weise meint wohl dieser Theologe, fallen die beiden Jesusvorstellungen
auseinander? Glauben die "vielen Menschen" mehr an den historischen
oder an den geglaubten Jesus? Der folgende Satz und die Ausführungen
Rademachers legen nahe, daß sich diese Menschen in ihrem Glauben durch eine
biographische Darstellung verunsichert fühlen, die die Gottheit Jesu leugnet.
Andererseits müßte es sich doch eher um Menschen handeln, die bisher an der Einheit
des geglaubten und des historischen Jesus festgehalten haben und nun durch
einen Artikel, der das Auseinanderfallen anzeigt, verwirrt werden. Herr Raede
hätte also richtig schreiben müssen: Das Problem ... besteht darin, daß sich
viele Menschen vor dem Kopf gestoßen fühlen, wenn von dem historischen Jesus
ein Bild gezeichnet wird, das so gut wie nichts mehr mit dem geglaubten Jesus
zu tun hat. Aber auch "der zu Rate gezogene Theologe" hätte
ehrlicherweise "viele Theologen" statt "viele Menschen" sagen
sollen. Wie auch immer, Herr Raede nennt die beiden thematischen Begriffe, die
Herrn Rademachers Zielrichtung bestimmen, nämlich das offizielle kirchliche
Bild des historischen Jesus und der Evangelien gründlich in Zweifel zu ziehen.
Der GEO
Herausgeber nimmt eine formale Trennung vor zwischen Rademachers biographischem
Anliegen und dem "spirituellen Kosmos des Christentums", mit dem sich
"andere GEO Reportagen befaßt haben". Damit wird – schließt man von
Rademachers Jesusdarstellung zurück – die Vorstellung suggeriert, daß sich die
Geschichte des Christentums vom historischen Jesus gelöst habe und eine
gleichsam autonome Phase der Religionsgeschichte darstelle.
Der von
gewissen Theologen behauptete Unterschied zwischen dem historischen Jesus und
dem Jesus des Glaubens ist Fiktion. Er kommt einem Angriff auf die Heiligkeit
Gottes und die Integrität der Evangelisten gleich. Denn der Jesus, der bis zu
seinem Tod am Kreuz auf Erden gelebt hat, und der Jesus, der mit verklärtem
Leib vom Tod zum Leben zurückgekehrt ist, ist derselbe. In seiner Kirche ist
Jesus durch alle Zeiten gegenwärtig und heiligt die Gläubigen.
Die
Integrität der Evangelisten greift an, wer ihre Wahrhaftigkeit anzweifelt. Wie
Jesus in jedem Christen lebt, der sich nach seinen Lehren ausrichtet, so wirkte
er auch in den Evangelisten, deren oberstes Ziel es war, wie Jesus selbst von
der Wahrheit Zeugnis abzulegen (Joh 18,37). Alle sachlichen Unterschiede
innerhalb der Evangelientexte berühren nicht die Wahrheitsliebe der Autoren,
sondern sind von anderen Gesichtspunkten her zu beantworten.
Am Ende
stellt sich die Frage, worin Herrn Raedes und Herrn Rademachers geistige
Fehleinschätzung besteht. Sie besteht darin, daß ein Nicht-Glaubender etwas
Gültiges über den christlichen Glauben aussagen könne. Auch ein Glaubender kann
Fehlurteile fällen, wenn er von falschen Denkansätzen ausgeht. Die richtige
Denkebene gewinnt der Mensch, wenn er die Grenzen seiner Erkenntnisfähigkeit
einsieht. Wenn er wie Sokrates sagt: "Wirklich weise, ihr Männer, mag der Gott
(Apollon) sein und er mag in seinem Orakel dies meinen: die menschliche
Weisheit ist wenig wert oder nichts" (Apologie I,9).
Die richtige Denkebene besitzt der Christ, wenn er glaubt, daß Gott in seiner
unergründlichen Weisheit alles geschaffen hat, auch die Naturgesetze, daß er die Quelle des Lebens und der Freiheit ist, und daß
in ihm der Sinn alles Wißbaren geborgen ist. Daher beunruhigt ihn nicht, wenn
er nicht alles erkennt und weiß. Er hält es auch nicht für nötig, Wissenslücken
durch geschickte Mutmaßungen zu schließen.
Folgendes
Fazit ist zu ziehen:
1. Insofern sich Wissenschaft mit der Erforschung
des Endlichen befaßt und einem Nicht-Glaubenden die Maßstäbe für den
christlichen Glauben fehlen, ist Herr Rademachers Versuch, dem historischen
Jesus gerecht zu werden, von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Sein
erzählerisches Talent und sein Einfallsreichtum sind bewundernswert, aber
zwischen Fiktion und Realität ist eben ein riesengroßer Unterschied.
2. Der Sinn des menschlichen Lebens kann nicht in
der Endlichkeit von Raum und Zeit gefunden werden. Die Erforschung des
Endlichen ist kein Endzweck. Die Zeitschrift GEO tut gut daran, die
Möglichkeiten und Grenzen der Wissenschaft hinsichtlich des menschlichen
Lebenssinns zu reflektieren und nicht im Unbestimmten zu lassen. Sie sollte
sich nicht anmaßen, etwas leisten zu können, was sie nicht leisten kann.
3. Das Heil des Menschen liegt nicht in der
Wissenschaft und im Endlichen, sondern im Glauben an Gott, in dem alle Geheimnisse
des Endlichen ihren Ursprung haben und der die Quelle jeder wahren Erkenntnis
ist. Wissenschaft und Umgang mit technischen Errungenschaften allein bieten nur
kurzzeitige Befriedigung, aber keine wirkliche Zukunftshoffnung.
4. Der christliche Glaube ist die
Ergänzung und Vollendung des Wissens um die Bedingungen der menschlichen
Existenz. Dieses Wissen erlangt man durch aufrichtige und geduldige Bemühung.
5. Der Jesus der neutestamentlichen Schriften ist
nicht aus mythologischer Analogie und archetypischen Bildern des Unterbewußten
entstanden, sondern ist durch den Geist treuer Überlieferung Wort gewordenene
Wirklichkeit des Menschen schlechthin, von der her die Wirklichkeit der
menschlichen Existenz und alles Seienden ihre wahre Bedeutung erhält.
Abschließende Bemerkung:
Rademachers journalistischer Stil entwirft ein
geschichtliches Panorama, von dessen Perspektive her die Jesusgestalt eine kaum
wahrnehmbare Existenz führt und zu einer quantité negligeable im Strom
geschichtlicher Ereignisfülle wird. Ein in dieser Sicht von ihrem Gründer
weitgehend losgelöstes Christentum wird zu einem intellektuell beurteilbaren
Phänomen der Religionsgeschichte reduziert.
Erstellt:Februar 2004