Der Mensch
als Individuum
1.
Jedes
Lebewesen ist einmalig in dem Sinne, daß keines ganz genau einem Artgenossen
gleicht. In der antiken Philosophie hat man das, was allen Individuen einer Art
gemeinsam ist, Substanz, und das, was verschieden sein kann, Akzidens genannt.
Jede Nase z.B. hat dieselben anatomischen Merkmale und Funktionen, doch keine
zwei Nasen haben genau dieselbe äußere Form.
2.
Alle
Menschen sind daher ihrem Wesen nach gleich, aber nach Aussehen, Fähigkeiten
und Charakter verschieden.
3.
Das
dem Menschen wesensgemäßeste Merkmal ist die Vernunft. Insofern der Mensch ein
Handelnder ist, ist es seine Aufgabe, vernünftig zu handeln. Dieses
Wesensmerkmal muß er allerdings erst erkennen, um danach handeln zu können.
Durch vernunftgemäßes Denken überprüft, ordnet und
lenkt der Mensch seine Triebkräfte, Wünsche und Begierden, ja sein Denken
selbst. Vernunftgemäßes Denken beruht auf der Erkenntnis, daß dem menschlichen
Leben eine Ordnung zugrunde liegt, deren Entdeckung und Verwirklichung dem
Menschen Sinn und Erfüllung seines Daseins gibt.
Bevor das menschliche Individuum die volle
Herrschaft über sein eigenes Leben erlangt, lernt er von seinen Eltern, von
anderen Menschen und Gemeinschaften einen Sittenkodex, der sein Gewissen über
richtiges und falsches Handeln bildet. Durch seine Vernunft kann er diesen
Kodex überprüfen und modifizieren. Er hat die Wahl vernunftgemäß oder gegen die
Vernunft zu handeln. Darin besitzt jeder Mensch Willensfreiheit und
Verantwortung.
4.
Zwei
gegensätzliche Vorstellungen vom Wesen des Individuums sind denkbar:
–
Das
Individuum bemißt sich und wird bemessen nach den allen Menschen gemeinsamen
Wesensmerkmalen. Diese Sicht ist besonders im griechischen Denken verankert.
–
Das
Individuum sucht seine Identität in seiner Unterschiedenheit von anderen
Individuen. Es ist keiner anderen Instanz Rechenschaft schuldig, nicht einmal
sich selbst, sondern sieht seinen höchsten Sinn in der Verwirklichung seines
verfassungsmäßig garantierten Lebensrechtes.
Das künstlerische Individuum stellt sich nicht mehr allgemeiner und
vermittelbarer Vernunft, sondern sucht in seinen Vorstellungen, Gefühlen und
Phantasien seine Individualität zu erleben und im Werk darzustellen. Dieser
Sicht künstlerischer Individualität hat sich weitgehend auch das
Bundesverfassungsgericht angeschlossen:
Künstlerisches
Schaffen ...[ist] primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck und zwar
unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers. (IQ)
Von anderen in eigener Person und in seinem Werk
beurteilt oder gar kritisiert zu werden, betrachtet der Künstler als Beleidigung,
wenn nicht als Beschneidung seines Lebensrechtes.
Das intellektuelle Individuum versteht sich als autonom in dem Sinne,
daß es jede Autorität ablehnt außer der einen unbestrittenen menschlichen
Fähigkeit, naturwissenschaftliche und andere durch Experiment nachgewiesene
Erkenntnisse und technische Werke hervorzubringen. Unter Autorität sind hier
alle überlieferten Wertvorstellungen zu verstehen sowie deren göttlichen
Quelle, besonders das Christentum, dem Europa seine geschichtliche Gestalt
verdankt.
Es wird zu erklären sein, wie es zu
dieser zweiten, heute vorherrschenden Vorstellung des Individuums gekommen ist.
5.
Die
Mitte zwischen beiden extremen Vorstellungen von Individualität hält das
römische und christliche Verständnis. Der Römer erkennt in seinem Genius seine
ihm einzigartig eingestifteten göttlichen Lebenskräfte. Seine unverwechselbare
Individualität ist jedoch streng auf die Gemeinschaft hingeordnet: Nur durch
seine Leistung für die Gemeinschaft findet seine Individualität Sinn und
Erfüllung.
6.
Im
Christentum schließlich erhält das Individuum eine überragende Bedeutung: es
wird zur PERSON. Das Wesen der menschlichen Person ist in der
Menschwerdung der zweiten göttlichen Person Jesus Christus begründet. In ihm
zeigt sich, daß jeder Mensch Abbild/Ebenbild Gottes ist und eine unsterbliche
Seele besitzt. Durch ihn als Person und durch seine Lehre soll jeder Mensch zur
Erkenntnis der Wahrheit und nach dem irdischen Tod zur ewigen Gemeinschaft mit
Gott gelangen. Christus hat sein Leben geopfert, damit alle durch den Glauben
an ihn und in seiner Nachahmung das ewige Heil erlangen können. Er
identifiziert sich so mit jedem Menschen, daß er sagt: "Was ihr dem
geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan." (Mt 25,40).
Indem jeder Mensch durch Gottes Liebe erschaffen
und durch Christus zur Heiligkeit und zum ewigen Leben berufen ist, kommt ihm
ein unvergleichlicher Wert zu. Dieser ist seine WÜRDE.
Erstellt: November 2006