c. 72
Dicebas quondam solum te nosse Catullum,
Lesbia, nec prae me velle tenere Iovem.
Dilexi tum te non tantum ut vulgus amicam,
sed pater ut gnatos diligit et generos.
Nunc te cognovi: quare etsi impensius uror,
multo mi tamen es vilior et levior.
Qui potis est? inquis. Quod amantem iniuria talis
cogit amare magis, sed bene velle minus.
1. Die 1 u. 3. Zeile beginnen mit Verben, die den gemeinsamen Anlaut "di" haben. Wie kontrastiert diese formale Zuordnung inhaltlich? Betrachten Sie die Bedeutung der beiden Verben.
2. Wie korrespondieren die 2. u. 3. Zeile formal und inhaltlich miteinander?
3. Welche Form der Liebe wird durch nosse und tenere, welche durch dilexi ausgedrückt?
4. Zeile 5 und Zeile 1 konstrastieren durch te nosse – te cognovi. Worin besteht der inhaltliche Kontrast von cognovi zur ersten Zeile?
5. Wie sieht Catull das Verhältnis des vulgus zur amica, und was ist in Catulls Verhältnis zu Clodia anders?
6. Welche klanglichen Korrespondenzen gibt es im 2. Distichon und innerhalb und zwischen dem 3. u. 4. Distichon?
7. Welche grammatikalische Korrespondenz gibt es zwischen dem 3. u. 4. Distichon?
8. Vergleichen Sie die Bedeutung von amicam, amantem und amare.
9. Untersuchen Sie die Bedeutung des Buchstaben V.
10. Finden Sie formale und inhaltliche Gründe für den m-Auslaut am Ende der ersten drei Zeilen. Interpretieren Sie Anfang- und Schlußlaut in den Zeilen 4, 7 und 8.
11. Finden Sie eine klangliche Korrespondenz und eine inhaltliche Korrespondenz zwischen Zeile 5 und 8.
12. Worin besteht die besondere Wirkung der letzten Zeile?
1. Beide
Distichen sprechen in Superlativen über die Liebe, im ersten Lesbia, im zweiten
Catull. Im 1. Distichon drückt Lesbia ihre Liebe nur mit Worten aus, Catull
seine Liebe durch wirkliches Handeln. Die Parallelität von dilexi und dicebas stellt
die Glaubwürdigkeit von Lesbias Worten in Frage.
2. Beide Zeilen
enthalten eine verneinte Aussage und einen Vergleich. Der erste ist übertrieben
hoch gegriffen (Iovem) und in
Verbindung mit dicebas unglaubwürdig,
der zweite ist der geringschätzige Gegenpol (vulgus
amicam), der jedoch als Kontrast für die positive Definition von Catulls
Liebe in der nächsten Zeile dient.
3. Die beiden
Infinitive nosse und tenere betonen die körperliche
Gemeinschaft der Liebe, das Verb dilexi
ist zunächst umfassender und im Zusammenhang der 4. Zeile als wesentlich
geistig zu verstehen.
4. Lesbias
Beteuerung des nosse schenkte Catull
zunächst volles Vertrauen und er richtete sein Leben darauf ein. Die
Ausschließlichkeit ihrer Liebesentscheidung war in sich ein geistiger Wert, der
Catulls Engagement zu rechtfertigen schien. Lesbias Untreue (talis iniuria) zeigt ihm jedoch, wie
unzuverlässig ihre Worte und ihr Kennen (nosse)
war. Ernüchtert erwacht er aus seinem Liebestraum und kommt zu einer klaren
Erkenntnis, die das glatte Gegenteil der Bedeutung nosse beinhaltet.
5. Das Wort vulgus ist ein Kollektivbegriff. Gemeint
sind die Mehrheit der Männer. Für sie bedeutet das Verhältnis zu einer Freundin
keine sittliche Verpflichtung, sie suchen bei ihr ein sinnliches Vergnügen und
halten sie bei Laune, solange es ihnen genehm ist.
Catull hingegen liebt Clodia um ihrer selbst
willen. Kraft seiner Liebe erkennt er nicht nur ihre Stärken, sondern auch ihre
Schwächen, und er stützt die Geliebte, wo sie der Hilfe bedarf. Diese Haltung
schließt seine körperliche Beziehung zu ihr ein, da auch sie ein Ausdruck
selbstloser Liebe sein kann. Entsprechend der Liebe eines Vaters zu seinen
Söhnen und Schwiegersöhnen umgibt er Clodia mit seiner Sorge und bietet ihr
sittlichen Halt. Catulls unbedingte sittliche Bindung an Clodia macht ihn
jedoch in dem Maße abhängig von ihr und unfrei, wie ihr der Wille zu einer
solchen Bindung fehlt.
6. Klanglich
sind die Zeilen 3 u. 4 durch jeweils 4 t
verbunden. Die 5. u. 6. Zeile korrespondiert durch auslautendes -or in uror und vilior et levior.
Die Zeilen 5 und 7 korrespondieren durch k- und
s-Laute, besonders deutlich in ets(i)
impensius und potis est inquis (ZW 51, vgl. rota).
Die Zeilen 7 u. 8 haben den gleichen Anfangslaut q/c und Schlußlaut s. Außerdem korrespondieren inquis
und magis.
7. Beide
Distichen enthalten Komparative.
8. Das
Wort amica wird hier mit negativer
Färbung als verfügbares Objekt männlichen Vergnügens verwendet. Amans ist der wahrhaft Liebende, amare jedoch bedeutet lediglich die
sinnliche Komponente der Liebe. Dieser Sinn wird erst aus dem folgenden sed bene velle minus deutlich.
9. Die
Bedeutung des V wird durch den
Erkenntnisvorgang cognovi bestimmt: Catull urteilt
über Clodias Charakter. Der Bruch ihres velle
unterminiert Catulls bene velle.
Ihrem Charakter fehlt in einer entscheidenden Lebenssituation die sittliche
Verankerung (vilior et levior).
Dadurch gerät sie in die Nähe einer amica,
der sich das vulgus der
Männer nach Belieben bedient.
10. In
den ersten beiden Zeilen werden Catullum
und Iovem als alternative Liebhaber gegenübergestellt.
Iovem und amicam stellen das höchste und niedrigste Ziel der Liebe gegenüber.
Formal fordert der gleich Zeilenanlaut di
in Zeile 1 und 3 einen gleichen Zeilenauslaut.
Die 4. Zeile beendet die 1. Hälfte des Gedichts.
Die 3 s-Laute am Anfang, in der Mitte
und am Ende geben der Aussage eine kreisförmige Geschlossenheit.
Insofern das 4. Distichon mit dem 1. Distichon
korrespondiert, entsprechen die beiden Schluß-s den beiden Schluß-m. Da
der letzte Satz in der vorletzten Zeile beginnt, erhält das gesamte letzte
Distichon eine größere Geschlossenheit durch gemeinsamen Anlaut.
Wie Zeile 4 besteht Zeile 8 aus 32 Buchstaben und
enthält 3 s (in Z. 8 in der Mitte
zusammenstoßend). Außerdem wird das 2. und 4. Distichon jeweils durch sed in zwei syntaktische Glieder
geteilt. Somit zeigt die letzte Zeile Catulls veränderte Haltung gegenüber
Zeile 4 an.
11. In
Rahmenfunktion entspricht dem cognovi
das Erkenntnisresultat cogit.
Inhaltlich entsprechen sich impensius
uror und amare magis.
12. Die Zeile wird am Ende der beiden
Pentameterhälften durch die klangähnlichen und semantisch korrespondierenden
Wörter magis und minus symmetrisch geteilt. Dabei erhält der negative Begriff amare das positive magis und der positive Begriff bene
velle das negative minus. Die
Aussage wird durch eine paradoxe Gegenüberstellung verstärkt.
13. Was
ist mit talis iniuria gemeint?
Catull und Clodia müssen sich in einer von großem gegenseitigem Vertrauen geprägten Situation ein Treueversprechen gegeben haben, das eine hohe sittliche Selbstverpflichtung einschloss. Bricht eine Seite dieses Versprechen, ist das frühere Vertrauensverhältnis unwiederbringlich verloren.