Dido und Aeneas: Die Tragik ihrer Trennung
Didos erste Rede (304-330)
Dido bezeichnet Aeneas als treulos. Um seinen
Entschluß zu ändern, appelliert sie an die verpflichtende Kraft gemeinsamer Liebeserlebnisse
(noster amor) und behauptet, daß er
ein Treueversprechen (data dextra quondam)
gegeben habe. Einen ausdrücklichen Texthinweis gibt es dafür nicht. Vermutlich
sagte Aeneas durchaus aufrichtig zu Dido, er werde sie immer lieben. Aber
während Aeneas seine Aussage eher allgemein versteht und ihr entsprechend der
konkreten Situation eine abgewandelte Bedeutung gibt (ich werde nie in meinem
Leben ungern an dich denken, 335/36), macht Dido ein Eheversprechen daraus. Ein
solches Versprechen ist jedoch nicht denkbar. Denn bei seinem ersten
Zusammentreffen mit Dido (I,610) wies Aeneas darauf hin, daß er weiterziehen
müsse. (quae me cumque vocant terrae
– welche Länder mich auch immer rufen).
Didos Herz ist von ihrem heiligen Versprechen
gegenüber Sychäus, ehelos zu bleiben, auch durch Opfer nicht frei geworden .
Daher ist sie nicht zu wirklicher Liebe befreit, sondern wird von
Liebesleidenschaft beherrscht. Indem sie ihr Liebesverlangen in der Höhle
erfüllt, hat sie nicht nur die Treue zu Sychäus gebrochen, sondern auch ihre
innere Würde verletzt. Schon aus diesem Grund wagt sie nicht, Aeneas von sich
aus um die Ehe zu bitten, da sie – wenn sie sich an ihrem vollkommenen Bild von
Aeneas mißt, selbst eine Zurückweisung erteilen müßte. Vielmehr hofft sie,
durch ihre Hingabe eine solche Vorleistung erbracht zu haben, daß Aeneas die
Initiative für eine formelle Eheschließung ergreift. Auf diese Weise würde
Aeneas sie von ihrer Verpflichtung gegenüber Sychäus befreien.
Aeneas selbst ist in einem Zwiespalt. Nachdem er
einmal der Liebesleidenschaft Didos nachgegeben hat, geht es ihm um die
Glaubwürdigkeit seiner Liebesbeziehung zu Dido und um seine innere Freiheit. Er
bemüht sich also, sie um ihrer selbst willen zu lieben, ohne einen Vorteil
dafür im Auge zu haben. Ein materieller Vorteil aber wäre es, wenn er an eine
Ehe denken würde, da er ja dann Mitbeherrscher ihres Reiches würde. Um ihr
seine selbstlose Liebe zu zeigen, hilft er er beim Aufbau der Stadtmauer
kräftig mit. Aeneas versteht seine Liebe auf der Basis gemeinsamen
Einvernehmens und gleicher Verteilung der Selbstverantwortung. Er hält sich so
innerlich frei für die Weiterfahrt, die sich wegen des Winters und aus
Rücksicht auf das Angebot von Didos Gastfreundschaft verschiebt.
Mit dem Wort moritura
will Dido ausdrücken, daß, wenn Aeneas sie verläßt, ihr nichts als ein
grausamer Tod übrig bleibt. Diese Aussage ist mehr als ein dramatisierter
Appell an Aeneas' Liebe. Mit ihrer leidenschaftlichen Liebe hat sie ihre
personale Freiheit ganz an Aeneas übergeben. Verläßt Aeneas sie, weiß sie
nicht, wie sie ihre Freiheit, Würde und Selbstachtung wieder gewinnen kann,
zumal die innere Beziehung zu Sychäus zerbrochen ist und damit der stärkste
Halt ihres Lebenssinnes verloren gegangen ist. In hilfesuchender Verzweiflung
wendet sich also Dido an Aeneas, wenn sie von ihrem Tod spricht.
Da Dido nicht weiß, daß Aeneas auf höheren Auftrag
handelt, und da er zu einer unüblichen Jahreszeit aufbricht, kann sie
angesichts ihrer inneren Unsicherheit nicht anders als den Grund für Aeneas'
Aufbruch auf sich zu beziehen.
Didos erste Bezugnahme auf ihre gegenseitige
Beziehung (Z.307-308) wird in einem langen sechs Zeilen umfassenden Satz wieder
aufgenommen und erweitert. Als Vorbereitung zu der flehenden Bitte der letzten
beiden Wörter (exue mentem – ändere
doch deinen Sinn) dient ein dreimaliges beschwörendes per . Ein zweites Mal beruft sie sich auf seine Rechte (dextramque tuam), auf sein Ehrenwort,
worin ihre einzige Hoffnung besteht, da alles übrige seine Bedeutung verloren hat.
Und sie erinnert Aeneas an den Anfang ihrer Liebesbeziehung. Durch diese
Beziehung steht auch ihre Herrschaft auf dem Spiel. Denn der verlassenen
Geliebten wird keine Achtung mehr gezollt. Sie ist sich darüber im klaren, daß
sie ihre Ehre (pudor) und ihren Ruf (fama) verloren hat und nimmt dafür seine
Verantwortung in Anspruch.
Dido schließt ihre Rede mit dem intimen Vorwurf,
Aeneas habe ihr nicht einmal einen Sohn gezeugt, der ihr Hoffnung für die
Zukunft geben könne.
Die Rede des Aeneas (331-361)
Zweimal wird betont, daß sich Aeneas kurz (pauca) faßt: einmal durch den Erzähler
(333), das zweite Mal von Aeneas (337). Damit wird ausgedrückt, daß Aeneas
nicht auf Didos emotionaler Ebene antworten will. Er bringt sachliche
Argumente, nur als er von den schreckenden Traumgesichten seines Vaters
Anchises spricht, bekundet sich sein innerer schuldbeschwerter Zustand auf
bewegende Weise.
Wenn Aeneas zum Schluß von Didos Klagen (querelis) spricht, läßt er keinen
Zweifel daran, daß sich Dido ihr Schicksal in erster Linie sich selbst
zuzuschreiben hat.
Didos zweite Rede (362-392)
Dido ist überhaupt nicht fähig, die Argumente des
Aeneas sachlich aufzunehmen. Sie erkennt nur Aeneas unveränderten Entschluß
abzureisen. Nachdem sie durch ehrliche Darlegung ihrer Lage und durch
flehentliches Bitten nichts erreicht hat, wird sie beleidigend und ausfällig.
Sie steigert sich in rachsüchtige Worte hinein und als sie damit am Ende ihrer
Argumente ist, stürzt sie in einem hysterischen Anfall davon.
Die Reaktion des Aeneas auf Didos
Rede und Verhalten (363-396)
Didos emotionale Waffen haben Wirkung gezeigt. Er
will zu ihr und sie trösten und ihr Weggang läßt auch ihn den Verlust einer
schönen Beziehung verspüren. Doch er überwindet die Gewalt der Gefühlsbindung
und im Gehorsam (pius) gegenüber dem
Willen der Götter (iussa divom)
findet er inneren Frieden und Sinn.
Didos Bitte um Annas Vermittlung
(417-436)
Dido kann sich mit Aeneas' Abreise immer noch
nicht abfinden. Sie selbst hat schon alle ihre Mittel ausgeschöpft und bittet daher
ihre Schwester um Vermittlung. Sie konstruiert einen kleinen Gefallen, den
Aeneas ihr nicht verweigern könne, um ihn doch noch einige Tage behalten zu
können und ihn dann ziehen zu lassen.
Die Reaktion des Aeneas auf Annas
Vermittlungsversuch (438-449)
Die vorgetragene Bitte ist verlockend, die schöne
Zeit mit Dido kann noch etwas verlängert werden, Dido schließlich versöhnlich
gestimmt werden. Aber wird nicht auch seine Gefühlsabhängigkeit verlängert,
verzögert sich die Abreise nicht länger als geplant und wird nicht Dido
dieselben Szenen aufführen? Daher bleibt er standhaft wie die Eiche, die unter
dem Wüten des Sturmes ächzt und stöhnt, aber unerschütterlich in ihrem
Fundament verankert ist. Vergil verwendet diesen ungewöhnlich ausdrucksstarken
Vergleich, um Aneas' inneren Kampf darzustellen.
Didos unheilvolle Vorzeichen und
Träume (450-473)
In ihrer Verzweiflung beschließt Dido ihren
endgültigen Tod. Damit ist sie dem Unheil verfallen. Sie kann kein gültiges
Opfer darbringen, die zürnende Gottheit reagiert durch abscheuliche Verwandlung
von Wein in Blut. In ihren Träumen kehrt sich Aeneas' Rolle zu einem Feindbild
(ferus Aeneas, 466) um.
Didos Selbstgespräch und Schuldsuche
(534-553)
Als Dido in der Nacht nicht einschlafen kann, geht
sie noch einmal ihre Lage durch. Völlig beziehungslos, sieht sie nur zwei
Möglichkeiten, die sie gleichzeitig ausschließt: Die früheren Freier sind ihr
ein Abscheu und etwa Aeneas zu Schiff zu folgen ist vollends irrwitzig. Also
bleibt nur der Tod durch das Schwert. Nun sieht sie, daß ihre Schwester ihr
keine Hilfe war, sondern sie im Gegenteil von ihrer früheren Standhaftigkeit
abgebracht hat. Da sie Sychäus die Treue gebrochen hat (non servata fides), hat sie ihren Tod verdient
Aeneas' Traum (554-570)
Aeneas ist noch nicht abgesegelt. Didos Entschluß zum Selbstmord und ins
Böse verkehrten Gefühle bestimmen unheilvoll die Atmosphäre auf dem Schiff. Zur
selben Zeit, als Dido ihr Selbstgespräch führt, hat Aeneas eine
Traumerscheinung. Eine Gestalt, die wie Merkur aussieht, drängt ihn zur
Abfahrt, indem er Dido zum Schreckbild macht, die Schlimmes im Schilde führe (dolos in pectore versat, 563). Die
Gestalt macht ihm Angst vor der Frau schlechthin (varium et semper mutabile femina).