Die folgende literarische Analyse
war ursprünglich eine Amazon-Rezension der zweisprachigen Reclamausgabe
Sulpicius Severus, Vita Sancti Martini, übersetzt und kommentiert von Gerlinde
Huber-Rebenich, die ich in meinen Ausführungen noch einige Male erwähne.
Außerdem habe ich eine Würdigung der literarischen Leistung des
Sulpicius Severus verfaßt, worin gematrische Gesichtspunkte eine Rolle spielen.
---------------FORM UND
INHALT------------------
Um die verhältnismäßig kurze
Monographie des Sulpicius angemessen zu würdigen, sollte der Leser zwei innere
Haltungen miteinander verbinden und gegenseitig durchdringen, die der
Wissenschaft und die des christlichen Glaubens. Beide beanspruchen rationales
Denken für sich. Beiden Haltungen entsprechen die literarischen Prinzipien FORM
und INHALT.
Die Altphilologin Gerlinde Huber-Rebenich wird
der wissenschaftlichen Betrachtungsweise durch folgende Gliederung ihres
Nachworts gerecht:
A. Der Autor: Sulpicius
Severus
B. Der Protagonist:
Martin
----I. Der historische Martin
---II. Das Martinsbild des
Literaten Sulpicius Severus
------ 1. Das literarische
Programm des Sulpicius Severus
------ 2. Das Martinsbild des Sulpicius
Severus
C. Rezeption der Vita und weitere
Martinsschriften
Formal arbeitet Huber-Rebenich
über Sulpicius Severus folgendes heraus:
– Vorbild für S.S. ist
die Vita des ägyptischen Mönchs Antonius, verfaßt von Athanasius.
– Sein Bestreben ist,
eine christliche Historiographie zu begründen. Widmungsbrief und Prolog stellen
eine ars poetica der christlichen Kunstprosa dar. In wörtlichen Anklängen
bezieht sich S.S. dort auf die Prologe der Komödie Andria des Terenz und der
Coniuratio Catilinae des Sallust. Der Aufbau der Vita lehnt sich an die
Kaiserbiographien des Sueton an. "Er macht sich das Erbe der Antike
untertan, um es wirksam zur Propagierung des christlichen Glauben zu
benutzen." (S.110)
– Adressaten seiner
Monographie sind die "provinziellen Eliten des Westens". (S.106)
– Er verteidigt Martin
gegen seine aristokratischen Bischofskollegen, die ihm früheren Kriegsdienst
und übetriebenes Asketentum vorwerfen.
Aus den genannten Umständen ergibt sich für
H.-R. eine "Stilisierung" seines Martin, dem er "systematisch …
die Züge von Propheten, Aposteln, Märtyrern und Bekennern verleiht und damit
verschiedene anerkannte Modelle von Heiligkeit integriert." (S.118) Der
Begriff "Stilisierung", der mehrmals verwendet wird, ist geeignet,
dem Leser Vorbehalte gegenüber dem Wahrheitsgehalt der hagiographischen Schrift
einzuflößen. Allerdings räumt H.-R. dem Verfasser ein, die Faktizität der
Ereignisse einer 'höheren Wahrheit' (S.104) unterzuordnen.
Es ist von H.-R. nicht zu
erwarten, daß sie in den für sie abgesteckten Rahmen literarischer Analyse
Glaubensaspekte einbezieht. Sie bewahrt stets die Haltung wissenschaftlicher
Sachlichkeit. Dem Glaubenden reicht diese jedoch nicht aus. Welchen Bezug zu
Martin von Tours, dem Patron Frankreichs und einer der bedeutendsten
Symbolfiguren des Christentums, sollte der Glaubende idealer Weise gewinnen?
Die Betrachtungsweise des Glaubens ist
zunächst vom Grundsätzlichen anzugehen und dann auf den Verfasser S.S.
anzuwenden.
………………………………………DIE PERSPEKTIVE DES
GLAUBENS …………………
---------------------------------
VOLLKOMMENHEIT ------------------
Der Christ ist zu einem
vollkommenen Leben in der Nachfolge Jesu Christi berufen. Es gibt viele Stufen
der Vollkommenheit. Ein heiliger Mensch zeichnet sich dadurch aus, daß er entschlossener
und radikaler den Weg des Evangeliums geht. Ein Heiliger ist wie Jesus Christus
selbst für jeden Christen ein nachahmenswertes Vorbild im Glauben.
Nach den Worten Jesu werden seine Werke auch
von seinen Jüngern vollbracht werden, wenn ihr Glaube stark ist (Joh 14,12-14;
Mk 16,17f; Lk 10,19). Martin von Tours ist einer der Ausnahmeheiligen, die
schon während ihrer Lebenszeit durch Wunder im ganzen Land berühmt werden.
Dieser Umstand bildet den Ausgangspunkt der literarischen Berufung des S.S.
----------------------------SULPICIUS
SEVERUS ----------------
____________________ Frühe
Lebenszeit ______________
Sulpicius Severus wurde um 355 als
Sproß eines vermögenden aquitanischen Adelsgeschlechts geboren. In Bordeaux
erhielt er Rhetorikunterricht und machte als Anwalt Karriere. Mit seinem Freund
Paulinus (ca. 353-431), dem späteren Bischof von Nola und dem Politiker und
Dichter Ausonius (310-393) stand er in geistigem Austausch. Nach dem frühen Tod seiner Gattin veräußerte
er seinen Besitz und führte auf seinem Landgut, das er behalten hatte, ein
asketisches Leben.
S.S. war von Haus aus Christ. Er hatte keine
Schwierigkeiten, wie auch wir heute, sein Christsein mit dem Studium der
klassischen lateinischen Schriftsteller zu vereinbaren. Die durch sie
vermittelte geistige und sprachliche Bildung hielt er für wertvoll und
erhaltenswert. Wir können annehmen, daß er eine hohe ideale Gesinnung besaß wie
etwa der moralisch denkende Historiker Sallust, von dem noch zu sprechen sein
wird.
Als Angehöriger der Aristokratie war er über
die geistige und religiöse Lage des Landes auf dem laufenden. Von Martin war er
gewiß bald sehr beeindruckt und wird ab einem bestimmten Zeitpunkt Partei für
ihn gegen seine bischöflichen Gegner ergriffen haben. Das Jahr 385, in dem der
als Häretiker angeklagte Priszillian hingerichtet wurde, obwohl Martin für ihn
eingetreten war, könnte eine entscheidende Wegmarke seines inneren
Verhältnisses zu dem Bischof von Tours gewesen sein. Priszillian vertrat wie
Martin einen asketischen Lebensstil. Irgendwann nach 390 "brannte er
darauf, Martins Lebensgeschichte aufzuschreiben" (25,1).
____________________ Seine
Vision von Martin_______________
Sulpicius erkannte, daß Martin eine
christliche Ausnahmeerscheinung war, ein zweiter Christus für die gallische
Nation. Er machte eine "Pilgerreise" zum Bischof von Tours, um seine
innere Vorstellung von ihm zu vervollständigen. Drei Dinge scheinen ihm, wie
auch für uns Nachvollziehende, Martins Lebenslauf zu bestimmen:
1. Seine frühe
göttliche Berufung (2,2)
2. Sein Mut, mit 10
Jahren gegen den Willen der Eltern um Aufnahme in die Kirche zu bitten (2,3)
3. Seine Absicht im
Alter von 12 Jahren, ein Eremitendasein zu führen, d.h., auf eine weltliche
Laufbahn zu verzichten und sich der Kontemplation des Göttlichen zu widmen
(2,4)
Diese drei Bestimmungsfaktoren
stellt Sulpicius in verdichteter Form an den Anfang der Vita. Seine
außergewöhnliche Heiligkeit erlangte Martin durch die Konsequenz und dem Mut,
seine ursprünglichen Intentionen zu verwirklichen.
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Literarische Umsetzung _________________
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Vorbereitung **************************
Um seiner literarischen Aufgabe gerecht zu
werden, folgt Sulpicius seinem Vorbild in der Besitzlosigkeit nach. Dies
erfordert von ihm MUT, sein väterliches Erbe auszuschlagen. Nun setzt er seine
literarischen Fähigkeiten ein, um dem "homini inlitterato" (25,8) ein
bleibendes Denkmal zu setzen. Mit dieser sicherlich nicht herabsetzenden
Bezeichnung meint Sulpicius erstens, daß Martin keine akademische Ausbildung
genossen hatte und zweitens, daß er nichts Schriftliches verfaßte, das der
Nachwelt erhalten bliebe.
Gewaltiger Antrieb für sein Vorhaben ist der
Historiker Sallustius Crispus und sein Traktat über Catilina aus folgenden
Gründen:
1. Sallust beklagt, daß
Heldentaten der frühen römischen Geschichte nicht oder zu wenig gewürdigt
wurden, weil es keine fähigen Historiker gab, die sie aufschrieben (Kap.8).
Diesen Fehler aber würde Sulpicius begehen, wenn "die Verdienste eines so
großen Mannes verborgen blieben" (Widmung 5). Er wolle sich bemühen,
"daß der, den es nachzuahmen gilt, nicht unbekannt bliebe" (1,6).
2. Dem absoluten
Bösewicht und Heiden steht ein Christ und außergewöhnlicher Heiliger gegenüber.
3. Sulpicius kann einen
persönlichen Schlußstrich ziehen in seinem Konflikt zwischen antikem und
christlichen Geist. Das Christentum verkörpert höhere Werte als das Römertum,
Glaube steht höher als Beredsamkeit (Widmung 3). Es ist unverkennbar, daß sich
Sulpicius gewaltsam von Sallust losreißt. Er setzt sich nicht ehrlich mit ihm
auseinander. Sallusts zentraler Begriff Ruhm (gloria) wird als nichtig (inanis)
bezeichnet. Während Sallust erst in Analogie zu den Tatmenschen Ruhm auch für
den darstellenden Historiker beansprucht, bezieht ihn Sulpicius primär auf den
Literaten. Hektor und Sokrates werden in einen Topf geworfen (1,3). Alles Tun
bezieht sich für den Christen nun "auf jenes selige und ewige Leben"
(1,2). Mit einem symbolträchtigen ersten Satz, parallel zu Sallust 2,8
verabschiedet sich Sulpicius von der heidnischen Antike:
S.S.: Plerique mortales, studio et gloriae
saeculari inaniter dediti, …
Sehr viele Sterbliche, weltlichem Streben und
Ruhm eitel hingegeben, …
Sallust: Multi mortales, dediti
ventri atque somno, indocti incultique vitam sicuti peregrinantes transigere.
Viele Sterbliche, dem Bauch und dem Schlaf hingegeben,
gehen ungebildet und ungesittet wie Herumirrende durchs Leben.
Der Ausdruck "studio et
gloriae saeculari inaniter dediti" erscheint als eine parodistisch
enthüllende Herabstufung auf die Begriffe "ventri atque somno".
************************ Durchführung
**************************
Im Widmungstext an seinen Bruder drückt
Sulpicius seine Befürchtung aus, es könnte ihm an sprachlicher Gewandtheit
fehlen, um seinem literarischen Vorhaben gerecht zu werden. Das ist sicher
nicht als bloße captatio benevolentiae zu verstehen. Schon Sallust betont in
der coniuratio, den geschichtlichen Taten müsse eine gleichwertige literarische
Darstellung entsprechen (facta dictis exsequenda sunt 3,2). Tatsächlich konnte
Sulpicius nicht erwarten, seinem Stilvorbild gleichzukommen. Vor allem
verlangte seine Abkehr von antik-heidnischen Denkmustern, etwas ganz Neues zu
schaffen. Als neues Stilvorbild konnten besonders die Evangelien dienen.
Sulpicius ist daran gelegen, seine Darstellung
nicht zu lang werden zu lassen. Was es an Berichtenswertem und Denkwürdigem zu
berichten gäbe, wird durch drei Umstände eingeschränkt: 1. Erstens, er hat
nicht alles in Erfahrung bringen können, was bekannt ist, 2. Martin hat vieles
für sich behalten, 3. aus dem, was er, Sulpicius, erfahren hat, ist eine
Auswahl zu treffen, um im Leser keinen Überdruß hervorzurufen. (1,7-8)
Sulpicius überlegt, worin Martins Heiligkeit
im Innersten besteht und wie er sie am überzeugendsten darstellt. Er findet
zweierlei heraus: 1. Niemand tritt mehr durch Wunderheilungen und sogar
Totenerweckungen hervor als er. 2. Je heiliger jemand ist, umso mehr ist er
Zielscheibe des Widerpartes Gottes, des Teufels. Als geweihter Exorzist ist er
dessen Angriffen besonders ausgesetzt. Diese beiden außerordentlichen
Wirkungsbereiche stellt Sulpicius daher in den Mittelpunkt seiner Lebensbeschreibung.
Demgegenüber spielen weder Kirchenpolitik, administrative Maßnahmen oder
Unterweisungen der Gläubigen eine Rolle.
Gerlinde Huber-Rebenich legt nahe (S.109), daß
sich Sulpicius die Gliederung von Suetons Kaiserviten in einen chronologischen,
einen systematischen und einen privaten Teil zu eigen machte. Demnach ist die
Vita Martini eingeteilt in die Kapitel 1-10, 11-24 und 25-27. Die Kapitel 11-20
behandeln Wunderzeichen, die Kapitel 21-24 Auseinandersetzungen mit dem Teufel.
Aber leitmotivisch wird auch im ersten Teil von Wundern und einer Begegnung mit
dem Teufel berichtet. Der Teufel kündigt ihm an: "Wohin auch immer du
gegen und was immer du unternehmen magst, der Teufel wird sich dir
entgegenstellen." (6,2)
Die Kürze der Darstellung und Martins Demut
ist Grund dafür, daß Sulpicius den Heiligen nur fünfmal in knapper direkter
Rede sprechen läßt: Alle fünf Fälle erweisen die machtvolle Wirkung seines
Mutes: Zuerst, als er vor einer Schlacht seinen Kriegsdienst aufkündigt und den
Vorwurf der Feigheit mit dem Angebot beantwortet, waffenlos den Feinden
gegenüberzutreten (4,3-5): Diese ergeben sich kampflos. In den anderen drei
Direktreden tritt er in Ausübung seines Exorzistenamtes dem Teufel selbst
gegenüber (6,2; 17,6; 22,5; 24,7) und verjagt ihn.
Angemerkt
sei hier, daß der Name MARTINUS bedeutet, dem Kriegsgott MARS
anzugehören. Von daher gewinnt seine Aussage vor Kaiser Julian "Christi
ego miles sum" – "Ich bin der Soldat Christi" eine konnotative
Bedeutung.
Die einzelnen Episoden sind sorgfältig
ausgearbeitet, zum Teil interaktiv durch die lebhafte Beteiligung anderer
Personen. Nach oder vor Episoden stehen zusammenfassende Aussagen, etwa daß
fast kein Kranker zu Martin kam, "der nicht zugleich seine Gesundheit
zurückerlangt hätte" (16,1) oder daß er meistens die Bauern durch
"heilige Predigt" dazu brachte, ihre heidnischen Tempel selbst zu
zerstören (15,4).
Als Erzähler nimmt Sulpicius eine rühmende
Grundhaltung ein, die jedoch nicht aufdringlich wirkt. Synonym zu Martinus
(64x) verwendet er vir sanctus (4x), vir sanctissimus (2x), sanctus episcopus,
vir beatus (7x), vir beatissimus, magistri beati. Die Übersetzerin konnte sich
nicht durchringen, auch beatus mit heilig wiederzugeben, denn selig hat leicht
andere subjektive Konnotationen.
In den Kapiteln 25-27 äußert sich Sulpicius am
persönlichsten über den Heiligen und seinen Charakter, dem Inhalt nach gleich,
doch eindringlicher als im Einleitungskapitel 1, wodurch Anfang und Schluß eine
konsequente Übereinstimmung bilden. Was Sulpicius am Ende sagt, ist geeignet,
auch den Leser zu Nachahmung des Heiligen zu bewegen: "An Martin ist alles
viel zu groß, als daß es sich in Worte fassen ließe" (26,3). Sein Denken
und Tun war "stets auf den Himmel gerichtet" (26,2). Äußerste Demut
und unablässiges Gebet kennzeichnen ihn: Als Sulpicius Martin besuchte, wusch
dieser ihm die Füße (25,3). Er "ließ auch beim Lesen, oder wenn er etwas
anderes tat, im Geist nie vom Gebet ab" (26,3). Das Gebet waren seine
Waffen (16,7).
Ein weiterer herausragender Charakterzug
Martins ist seine Sanftmut und Milde: "Niemand sah ihn jemals erzürnt,
niemand aufgebracht" (27,1), "keinen verurteilte er, keinen verdammte
er, keinem vergalt er Böses mit Bösem" (26,5). Seine Kleriker konnten ihn
ungestraft kritisieren.
Auffällig ist, daß im gesamten Text nur eine
Bibelstelle angeführt: Nachdem Martin dem Bettler die Hälfte seines Mantels
gegeben hat, träumt er in der folgenden Nacht, Jesus selbst habe das geschenkte
Kleidungsstück getragen. Sulpicius kommentiert diesen Traum mit den Worten:
"Was immer ihr einem dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir
getan" (3,4). Durch diese Zurückhaltung zeigt Sulpicius, daß er in Martin
die Verkörperung des Evangeliums selbst sah, das nur aus seinen Taten sprechen
sollte. Auf diese Weise bleibt Suspicius dienend im Hintergrund.
In einer Hinsicht kann ich Huber-Rebenich
nicht folgen: Sie meint, Sulpicius orientiere sich am ersten Brief des Apostels
Paulus an die Korinther 12,28, um in Martin alle Gnadengaben des Heiligen
Geistes darzustellen: Apostelamt, Prophetie, Krankenheilung, Zungenrede.
Natürlicher ist es, das verschiedenartige Wirken Jesu selbst als
Orientierungsmaßstab anzunehmen. Es geht hier um eine grundsätzliche
Denkperspektive, wie sich an den drei berichteten Totenerweckungen zeigen läßt.
Der erste Erweckte ist ein Katechumene seiner Mönchsgemeinschaft (Kap.7), der
zweite ein Sklave, der sich erhängt hat (Kap.8). Schließlich erweckt und heilt
er ein Mädchen anläßlich einer Reise nach Trier. Nach seiner Ankunft fleht ihn
der Vater des Mädchens an, sie zum Leben zu erwecken, sie lebe nur noch im
Geist, im Körper sei sie schon gestorben.
Auch gemäß den Evangelienberichten erweckt
Jesus zwei Männer (Jüngling von Naim, Lazarus) und ein Mädchen (Tochter des
Jairus) von den Toten. Nun könnte die Vermutung angestellt werden, Sulpicius
habe mit Absicht diese Parallelität hergestellt, um Martins Christusähnlichkeit
hervorzuheben. Die Perspektive des Glaubens folgt jedoch einer anderen Logik:
Gott lenkt in weiser Vorsehung seine Kirche und die Geschicke eines jeden
Einzelnen. Sankt Martin und Sulpicius sind also Werkeuge seiner Vorsehung, der
sich die Christusnähe der gewirkten Wunder verdankt. Inwiefern Sulpicius dabei
eine größere Auswahl von Erweckungswundern zu Gebote stand und wie weit ihm die
Parallelität bewußt war, wissen wir nicht. Das Wunder, das Martin in der
Kaiserstadt Trier wirkt, weist über seine Diözese hinaus auf den größeren
Rahmen der westlichen Reichshälfte hin. An das genannte Wunder schließen sich
im übrigen noch zwei weitere an.
Erwähnenswert sind erzählerische Mittel, die
Spannung erzeugen und sogar unterhaltsam wirken, indem Sulpicius verschiedenen
Gruppen von Akteuren und Zuschauern mit einbezieht. Als Beispiel sei eine
Missionsbegebenheit angeführt: Die Bewohner eines Dorfes ließen zwar die
Zerstörung ihres Tempelheiligtums zu, aber leisteten Widerstand bei der Fällung
einer ihnen heiligen Kiefer. Auf Vorschlag eines Dorfbewohners ließ sich Martin
an einen Pfahl binden, um den Leuten zu beweisen, daß sein Gott ihn beschütze.
Daraufhin beginnen die Bewohner mit wahrhaftigem Heidenspaß (cum ingenti gaudio
laetitiaque) die Kiefer zu fällen, die unweigerlich auf Martin fallen mußte.
Schon neigt sie sich gefährlich auf ihn zu. Die begleitenden Mönche erbleichen.
Im letzten Augenblick erhebt Martin sein Kreuz und schwups – schnellt die
gefällte Kiefer in die Gegenrichtung und hätte beinahe die Zuschauer auf der
anderen Seite getroffen.