Beschreibung des rechten Seitenaltargemäldes

 

Das Gemälde über dem rechten Seitenaltar wurde zwischen 1635 und 1640 von einem unbekannten Künstler geschaffen, nachdem 1634 aufgrund einer Pestepidemie die Bürger Rosenheims eine Pestkapelle zu Ehren des heiligen Sebastian gelobt hatten. Auffällig sind drei gekreuzte wuchtige lange Speere, die Jesus aus der Höhe des Himmels herabzuschleudern droht. Zu seiner Linken steht seine Mutter Maria mit nach unten geöffneten Armen, um die Menschen in ihren Schutz zu nehmen und den Zorn ihres Sohnes abzuhalten. Rechts oben thront Gott Vater mit einer Weltkugel im linken Arm und einem abwärts gehaltenen Szepter in seiner rechten Hand. Er blickt wie Jesus nach unten auf die Erde. Diese drei Personen sind in einer schrägen Linie von links nach rechts oben angeordnet.

Auf der Ebene darunter sind sechs männliche Heilige in parallel schrägem Anstieg gruppiert, die mit unterschiedlichen Gebetshaltungen um göttliches Erbarmen flehen. Rechts an oberster Stelle faltet der heilige FRANZISKUS in seinem Habit seine Hände im Gebet. Die übrigen fünf Heiligen sind durch ihre Attribute als Pestheilige erkennbar. Links unten erhebt flehend der heilige SEBASTIAN in sitzender Haltung die angewinkelten Unterarme. In der rechten Hand hält er einen Pfeil, zwei weitere liegen auf seinen gewandbedeckten Beinen. Er ist in allem das Parallel- und Gegenbild zu Jesus Christus: Den drei Speeren entsprechen drei Pfeile. Beide werden von reichen Gewanddrapierungen umflossen, die jeweils den Oberkörper frei lassen, bei Jesus außerdem den rechten Arm und das linke Bein, bei Sebastian beide Arme. Die rote Farbe des Gewandes weist auf das Martyrium beider hin, bei Jesus auf sein Königtum, bei Sebastian auf seinen hohen militärischen Rang. Sebastian erlangte seinen Ruf als Pestheiligen, als Rom 680 nach Anrufung des Heiligen von der Pest befreit wurde.

Neben Sebastian, zur Bildmitte hin, steht in Frontalansicht der heilige ROCHUS mit nach oben gewendetem Blick. Rochus, aus Montpellier stammend, lebte im 14. Jahrhundert. Auf einer Pilgerreise machte er in Orten halt, wo die Pest ausgebrochen war, und heilte viele durch das Zeichen des Kreuzes. Schließlich selbst an der Pest erkrankt, zog er sich an einen einsamen Ort zurück, wo er von einem Engel wunderbar geheilt wurde. Man sieht daher einen kleinen Engel an seiner Seite, der zu ihm aufblickt. Häufig wird er mit entblößtem Oberschenkel dargestellt, wie er auf ein Pestmal zeigt, das hier möglicherweise am Ansatz des Oberschenkels durch rötliche Färbung angedeutet wird.

Auf der rechten Seite, das mit Mitra bedeckte Haupt zur Mitte gewandt, kniet der heilige PIRMIN, bärtiger Wanderbischof des 8. Jahrhunderts. Erkennbar ist er an seinem Attribut, einer kleinen Schlange, die sich auf einem Buch windet. Nach seiner Ankunft auf der Insel Reichenau soll er die dortigen Schlangen für immer vertrieben haben. Sein Patronat gegen die Pest scheint auf das Inntal beschränkt zu sein. Aus dem reich verzierten dunkelblauen Bischofsornat schauen die hellblau bekleideten Unterarme hervor, die sich zu verschränkt betenden Händen schließen.

Links über ihm steht ein bartloser Bischof, der heilige Benno von Meißen. Seine Attribute sind ein Fisch und ein Schlüssel. Als er von einer kaiserlichen Verbannung 1088 zurückkehrte, wurde für ihn in einem Gasthaus ein Fisch zubereitet, in dessen Bauch sich der Schlüssel für das Domportal fand, den er bei seinem Weggang von Meißen in die Elbe geworfen hatte. Nach der Überführung seiner Gebeine nach München während der Reformationszeit wurde er Bistumspatron. Woher sich sein Bezug zur Pest ableitet, ist unklar. Auf der Mariensäule in Wiener Neustadt sind sechs Pestheilige dargestellt, darunter auch BENNO von Meißen.

Dem heiligen Benno gegenüber steht der heilige KARL Borromäus (1538-1584), Erzbischof von Mailand. Erkennbar ist er an seinem roten Kardinalsbirett. Während der Pestepidemie 1576 organisierte er umsichtig und aufopferungsvoll die Krankenpflege. Sein hageres Gesicht verrät seine asketische Lebensweise und unermüdliche Seelsorge, so dass er bereits im Alter von 46 Jahren an Entkräftung starb.

Fast übersieht man die irdische Ebene, die durch ein flaches Kugelsegment gekennzeichnet ist. In stark abgedunkelter Farbgebung erkennt man die Stadt Rosenheim, überwölbt vom umgebenden Gebirgshorizont.

Da sich die gegenüberstehenden Heiligen Borromäus und Benno leicht zurückneigen, um nach oben zu blicken, entsteht eine Dreieckslücke, die durch einen sich vorbeugenden Engel ausgefüllt wird.

Die Geschichte von den drei Speeren geht zurück auf die Lebensbeschreibung des heiligen DOMINIKUS in der Legenda Aurea des Jacobus de Voragine (1228-1298). Sie wurde von einem Franziskanerbruder erzählt und klingt so anrührend und beeindruckend, dass sie verdient, wörtlich wiedergegeben zu werden:

Als der heilige Dominikus in Rom wegen der Bestätigung seines Ordens vorsprach, sah er nachts beim Beten im Geist, wie Christus, in der Luft schwebend, drei Lanzen in der Hand hielt und gegen die Welt schwang. Da lief ihm rasch seine Mutter entgegen und fragte ihn, was er damit tun wolle. Und er: "Siehe, die ganze Welt ist voll von drei Fehlern: Hochmut, Lüsternheit und Habsucht, und daher will ich sie mit diesen drei Speeren vernichten."

Da fiel die heilige Jungfrau vor ihm auf die Knie und sagte: "Liebster Sohn, mäßige deinen Zorn und warte eine Weile ab, ich habe nämlich einen treuen Diener und tüchtigen Kämpfer, der überall herumziehen, die Welt erobern und deiner Herrschaft unterwerfen wird. Noch einen weiteren Diener werde ich ihm zu Hilfe geben, der ebenso mit ihm kämpfen wird." Darauf der Sohn: "Deine Worte haben micht besänftigt, doch möchte ich sehen, wen du zu einem solchen Amt berufen willst." Darauf stellte sie Christus den heiligen Dominikus vor. Darauf Christus: "Wahrhaftig, das ist ein guter und tüchtiger Kämpfer, der eifrig tun wird, was du gesagt hast." Auch den heiligen Franziskus stellte sie vor, und auch den lobte Christus wie zuvor den Dominikus.

Diese Episode der Legenda Aurea fand Aufnahme in dem Werk Speculum Humanae Salvationis (Spiegel der menschlichen Erlösung), das im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts von einem Dominikanermönch unbekannten Namens verfaßt wurde. In 40 der 45 Kapitel, die aus je 100 paarweise gereimten Versen bestehen, werden einem neutestamentlichen Ereignis oder Thema drei alttestamentliche Vorbilder zugeordnet. Die je vier Begebenheiten eines Kapitels werden durch zwei Doppelbilder illustriert. Kapitel 37 enthält den Traum des Dominikus. Die Illustrationen der mehrere hundert Manuskripte des 14. und 15. Jahrhunderts sind Einzelbearbeitungen mit zahlreichen individuellen Gestaltungen. Mehrheitlich werden die drei Speere gekreuzt in der Hand gehalten, um gleichzeitig in verschiedene Richtungen auf die Welt geschleudert zu werden. Bisweilen ist der vordere und hintere Teil der Speere gleich lang, so dass sie als griechische Initialen IX für Iesus Christus gelesen werden können. Besonders in späteren Handschriften sind Dominikus und Franziskus kniend, allein oder mit anderen Bittenden dargestellt:

 

Auf dem Rosenheimer Altarbild ist nur Franziskus dargestellt, da es seit 1606 ein Franziskanerkloster gab und die Ordensbrüder sich während der Pest vorbildlich der Rosenheimer Bevölkerung annahmen. Durch die Säkularisation 1803 aufgelöst, wurde das Franziskanerkloster 1856 neben der Pestkapelle neu errichtet, letztere durch die heutige Kirche ersetzt.

Mit seiner Absicht, die Welt zu vernichten, wollte Jesus sagen, dass die Welt dieses Schicksal verdient hätte. In Wirklichkeit werden die Menschen immer wieder von unheilvollen Ereignissen getroffen, die sie als Strafe für ihre Sünden deuten. Im Jahr 1348 wurde ganz Europa von der Pest heimgesucht. Kriege und Naturgewalten führten vielfach zur Verarmung der Bevölkerung. Die Menschen setzten daher weiterhin ihr Vertrauen auf die Fürsprache Marias bei ihrem Sohn. So konnte sich die Bedeutung der drei Speere allmählich wandeln. Ursprünglich symbolisierten sie die drei Todsünden, um derentwillen Jesus die Welt vernichten wollte. Später aber verbanden sich mit ihnen die drei größten Übel, PEST, HUNGER und KRIEG. In die Allerheiligenlitanei wurde die Bitte hinzugefügt: "Vor Pest, Hunger und Krieg bewahre uns, o Herr". Diese drei Übel werden im zweiten Buch Samuel, Kap. 24, König David zur Auswahl vorgelegt, und Gott straft das Volk durch Pest. Eine Übernahme in die Litanei liegt nahe. Die Menschen trifft die Pest wie Pfeile, in Homers Ilias die Griechen durch Apollo, nach der Legenda Aurea die Römer 590, als Gregor I. Papst wurde und die Allerheiligenlitanei einführte.

Unter den leidvollen Erfahrungen der Pestepidemien des 14. und 15. Jahrhunderts verbanden sich die Kapitel 37, 38 und 39 des SPECULUM zu einer Gesamtsicht des göttlichen Heilswirkens. In Kapitel 38 nimmt Maria die Menschen unter ihren Schutzmantel, in Kapitel 39 tritt Jesus bei Gott Vater für die Menschheit ein, indem er auf seine Wunden zeigt, und Maria bittet ihren Sohn um Erbarmen, indem sie auf ihre Brust weist, die ihn genährt hat. Bogen und Pfeile sind nun in der Hand Gott Vaters:

Die drei Speere oder Pfeile als Symbol der Bedrohung durch Pest, Hunger und Krieg wurden in der Folgezeit bis ins Rokoko festes Bildprogramm kirchlicher Kunst. Vater und Sohn halten abwechselnd Bogen oder Speere in ihrer Hand.

Martin Schaffner schuf 1513 für das Augustinerkloster Wengen in Ulm einen Pestaltar, der die genannten Motive bereits komplex darstellt. Rechts unten stehen die Heiligen Rochus und Sebastian nebeneinander:

 

 

1480 entstand das folgende Bild in St. Walburg, Eichstätt:

Auch das Rokokofresko der Pfarrkirche St. Alexius in Herbolzheim (1754) greift noch auf die Vision des hl. Dominikus zurück. Sie bietet für die Mittlerschaft Mariens als besonderes Thema einen geigneten historischen Anknüpfungspunkt aus dem Speculum.

Der unbekannte Künstler des Rosenheimer Altargemäldes stützte sich gewiß auf bildliche Vorlagen. Aber seine sorgfältig entworfene und durchgeführte Komposition läßt vermuten, dass er etwas sehr Eigenständiges schuf. Es ist kein Gemälde bekannt, das fünf Pestheilige auf einmal versammelt.

Am Ende der Geschichte aus der Legenda Aurea heißt es im 37. Kapitel:

Per hanc beatam visionem Dominus mundo innotuit, 
Quod Maria mediatrix inter Deum et hominem exsistit. 

Durch diese selige Schau teilte der Herr der Welt mit,

dass Maria als Mittlerin zwischen Gott und Mensch tritt.

 

Erstellt: 2022

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