Papst Benedikt XVI.: Ansprache während der Generalaudienz
am 10.9.08:
Paulus (4)
Liebe Brüder und Schwestern!
Er hatte also eine Vorstellung vom Apostolat,
die nicht nur mit der Gruppe der Zwölf verbunden war, wie sie vor allem vom
heiligen Lukas in der Apostelgeschichte überliefert worden ist (vgl. Apg 1,
2.26; 6, 2), sondern die darüber hinausging. Tatsächlich trifft Paulus im
ersten Brief an die Korinther eine klare Unterscheidung zwischen den "Zwölf"
und "allen Aposteln", die als zwei verschiedene Gruppen erwähnt werden, denen
der Auferstandene erschienen ist (vgl. 15, 5.7).
Im selben Text bezeichnet er sich selbst dann
bescheiden als "geringsten von den Aposteln"; er vergleicht sich sogar mit
einer "Missgeburt" und erklärt wörtlich: "Ich bin nicht wert, Apostel genannt
zu werden, weil ich die Kirche Gottes verfolgt habe. Doch durch Gottes Gnade
bin ich, was ich bin, und sein gnädiges Handeln an mir ist nicht ohne Wirkung
geblieben. Mehr als sie alle habe ich mich abgemüht – nicht ich, sondern die
Gnade Gottes zusammen mit mir" (1 Kor 15, 9–10). Das Bild der Missgeburt bringt
äußerste Demut zum Ausdruck; es findet sich auch im Brief an die Römer des
heiligen Ignatius von Antiochia: "Ich bin der letzte unter ihnen und eine
Fehlgeburt; aber durch Gottes Erbarmung bin ich etwas, wenn ich zu Gott gelangt
bin" (9, 2).
Das, was der Bischof von Antiochia in Bezug auf
sein bevorstehendes Martyrium sagen sollte, in der Ahnung, dass dies seinen
Zustand der Unwürdigkeit wandeln würde, sagt der heilige Paulus bezüglich
seiner apostolischen Aufgabe: In ihr zeigt sich der Reichtum der Gnade Gottes,
die sogar einen misslungenen Menschen in einen wunderbaren Apostel zu
verwandeln mag. Vom Verfolger zum Kirchengründer: Das hat Gott in einem
gewirkt, der vom evangelischen Standpunkt aus als Versager hätte betrachtet
werden können!
Was also macht, nach der Auffassung des heiligen
Paulus, ihn und andere zu Aposteln? In seinen Briefen tauchen drei
Haupteigenschaften auf, die einen Apostel ausmachen. Die erste besteht darin,
den "Herrn gesehen" (vgl. 1 Kor 9.1), also eine für das eigene Leben
entscheidende Begegnung mit ihm gehabt zu haben. Analog dazu sagt er im Brief
an die Galater (vgl. 1, 15–16), er sei durch die Gnade Gottes und die
Offenbarung seines Sohnes berufen, gewissermaßen auserwählt worden, um den
Heiden die frohe Kunde zu bringen. Schließlich ist es der Herr, der in das
Apostolat einsetzt, und nicht die eigene Anmaßung. Der Apostel macht sich nicht
selbst, sondern er wird vom Herrn dazu gemacht; der Apostel muss also in einer
ständigen Verbindung zum Herrn stehen. Nicht von ungefähr sagt Paulus, er sei
"berufen zum Apostel" (Röm 1, 1), das heißt "nicht von Menschen oder durch
einen Menschen, sondern durch Jesus Christus und durch Gott, den Vater" (Gal 1,
1). Das ist das erste Merkmal: den Herrn gesehen zu haben, von Ihm berufen
worden zu sein.
Das zweite Merkmal ist, "gesandt worden zu
sein". Der griechische Begriff "apóstolos" bedeutet "Gesandter", das heißt Bote
und Verkünder einer Botschaft; er muss also als Beauftragter und Verkünder
eines Auftraggebers handeln. Aus diesem Grund bezeichnet Paulus sich als
"Apostel Christi Jesu" (1 Kor 1, 1; 2 Kor 1, 1), also als Seinen
Bevollmächtigten, der ganz in Seinem Dienst steht, so dass er sich auch "Knecht
Christi Jesu" (Röm 1, 1) nennt. Nochmals steht hier im Vordergrund die
Vorstellung der Initiative eines anderen, der Initiative Gottes in Christus
Jesus, der man ganz und gar verpflichtet ist; doch vor allem wird die Tatsache
unterstrichen, dass von Ihm ein Auftrag empfangen worden ist, der in seinem
Namen auszuführen ist, wobei jedes persönliche Interesse vollkommen
zurückzusetzen ist.
Die dritte Erfordernis ist die "Verkündigung des
Evangeliums", mit der darauf folgenden Gründung von Kirchen. Der Titel
"Apostel" ist gewiss kein Ehrentitel und er kann auch keiner sein. Er
verpflichtet auf konkrete und auch dramatische Weise das ganze Dasein der
betroffenen Person. Im ersten Brief an die Korinther ruft Paulus aus: "Bin ich
nicht ein Apostel? Habe ich nicht Jesus, unseren Herrn, gesehen? Seid ihr nicht
mein Werk im Herrn?" (9, 1). Analog dazu erklärt er im zweiten Brief an die
Korinther: "Unser Empfehlungsschreiben seid ihr... ein Brief Christi,
ausgefertigt durch unseren Dienst, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem
Geist des lebendigen Gottes" (3, 2–3).
Es verwundert also nicht, wenn Chrysostomus Paulus
als "diamantene Seele" (Panegyrikoi, 1, 8) bezeichnet und weiter sagt: "So wie
das Feuer, wenn es weitere Stoffe ergreift, noch höher lodert ... so hat das
Wort des Paulus alle diejenigen für seine Sache gewonnen, mit denen er in
Berührung kam, und diejenigen, die ihn bekämpften, wurden, ergriffen von seinen
Reden, Nahrung für dieses geistige Feuer" (ebd. 7, 11). Das erklärt, warum
Paulus die Apostel als "Gottes Mitarbeiter" bezeichnet (1 Kor 3, 9; 2 Kor 6,
1), in denen Seine Gnade wirkt. Ein typisches Element des wahren Apostels, das
vom heiligen Paulus klar hervorgehoben wird, ist eine Art Identifikation von
Evangelium und Verkünder, denen beiden das gleiche Schicksal bestimmt ist. So
hat niemand so deutlich wie Paulus herausgestellt, dass die Verkündigung des
Kreuzes Christi als "empörendes Ärgernis und Torheit" (vgl. 1 Kor 1, 23)
erscheint, auf das viele mit Unverständnis und Ablehnung reagieren.
Das war damals so, und es darf uns nicht
verwundern, wenn es auch heute noch so ist. An diesem Schicksal, als
"empörendes Ärgernis und Torheit" zu erscheinen, hat der Apostel also Anteil,
und Paulus weiß das: das ist die Erfahrung seines Lebens. An die Korinther
schreibt er, nicht ohne eine Spur von Ironie: "Ich glaube nämlich, Gott hat uns
Apostel auf den letzten Platz gestellt, wie Todgeweihte; denn wir sind zum
Schauspiel geworden für die Welt, für Engel und Menschen. Wir stehen als Toren
da um Christi willen, ihr dagegen seid kluge Leute in Christus. Wir sind
schwach, ihr seid stark; ihr seid angesehen, wir sind verachtet. Bis zur Stunde
hungern und dürsten wir, gehen in Lumpen, werden mit Fäusten geschlagen und
sind heimatlos. Wir plagen uns ab und arbeiten mit eigenen Händen; wir werden
beschimpft und segnen; wir werden verfolgt und halten stand; wir werden
geschmäht und trösten. Wir sind sozusagen der Abschaum der Welt geworden,
verstoßen von allen bis heute" (1 Kor 4, 9–13). Es ist ein Selbstporträt des
apostolischen Lebens des heiligen Paulus: In all diesen Leiden überwiegt die
Freude, Überbringer des göttlichen Segens und der Gnade des Evangeliums zu
sein.
Paulus teilt zudem mit der stoischen Philosophie
seiner Zeit die Vorstellung, allen Schwierigkeiten, auf die er stößt, mit zäher
Beharrlichkeit zu begegnen; er überwindet jedoch die rein humanistische
Perspektive, indem er sich auf das Element der Liebe Gottes und Christi
bezieht: "Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder
Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert? In der Schrift steht: Um
deinetwillen sind wir den ganzen Tag dem Tod ausgesetzt; wir werden behandelt
wie Schafe, die man zum Schlachten bestimmt hat. Doch all das überwinden wir
durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben,
weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten
der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der
Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn" (Röm 8, 35–39). Das ist
die Gewissheit, die tiefe Freude, die den Apostel Paulus in allen Dingen
leitet: Nichts kann uns von der Liebe Gottes scheiden. Und diese Liebe ist der
wahre Reichtum des menschlichen Lebens.
Wie man sieht, hat sich der heilige Paulus mit
seinem ganzen Dasein dem Evangelium geschenkt; wir könnten sagen vierundzwanzig
Stunden von vierundzwanzig! Und er hat sein Amt treu und freudig ausgeführt,
"um auf jeden Fall einige zu retten" (1 Kor 9, 22). Und gegenüber den Kirchen
nahm er – selbst in dem Bewusstsein, in einem väterlichen (vgl. 1 Kor 4, 15)
wenn nicht gar einem mütterlichen (vgl. Gal 4, 19) Verhältnis zu ihnen zu
stehen – eine Haltung des vollkommenen Dienens ein und erklärte auf
bewundernswerte Weise: "Wir wollen ja nicht Herren über euren Glauben sein,
sondern wir sind Helfer zu eurer Freude" (2 Kor 1, 24). Das bleibt der Auftrag
aller Apostel Christi zu allen Zeiten: Helfer zu wahrer Freude zu sein.