Papst Benedikt XVI.: Ansprache während der Generalaudienz
am 3.9.08:
Paulus (3)
Liebe Brüder und Schwestern!
Uns liegen hierzu zwei Arten von Quellen vor.
Die erste und bekannteste sind die Erzählungen, die der Feder des Lukas zu
verdanken sind, der das Ereignis in der Apostelgeschichte ganze dreimal
schildert (vgl. 9, 1–19; 22, 3–21; 26, 4–23). Der durchschnittliche Leser ist
vielleicht versucht, sich zu sehr bei verschiedenen Einzelheiten aufzuhalten,
wie dem Licht, das vom Himmel kommt, dem Sturz auf den Boden, der Stimme, die
ruft, dem neuen Zustand der Blindheit, der Heilung, als ob ihm Schuppen von den
Augen fielen und dem Fasten. Doch alle diese Einzelheiten beziehen sich auf den
Kern des Ereignisses: Der auferstandene Christus erscheint wie ein strahlendes
Licht, spricht zu Saulus und verwandelt so sein Denken und sogar sein ganzes
Leben. Das Strahlen des Auferstandenen macht ihn blind: So zeigt sich auch
äußerlich, was seinem Inneren entspricht, seine Blindheit gegenüber der
Wahrheit, gegenüber dem Licht, das Christus ist. Und dann öffnet sein
endgültiges "Ja" zu Christus in der Taufe ihm von Neuem
die Augen und lässt ihn wirklich sehen.
In der alten Kirche wurde die Taufe auch als
"Erleuchtung" bezeichnet, weil dieses Sakrament das Licht verleiht und wirklich
sehen lässt. Was hier theologisch angezeigt wird, verwirklicht sich in Paulus auch
physisch: Nachdem er von seiner inneren Blindheit geheilt ist, kann er wieder
gut sehen. Der heilige Paulus ist also nicht nur von einem Gedanken, sondern
durch ein Ereignis verwandelt worden, von der unwiderstehlichen Gegenwart des
Auferstandenen, an der er künftig niemals mehr zweifeln können wird, so stark
war die Ausdruckskraft dieses Ereignisses, dieser Begegnung. Sie hat das Leben
des Paulus fundamental verändert; in diesem Sinne kann und muss man von einer
Bekehrung reden. Diese Begegnung bildet das Zentrum der Erzählung des heiligen
Lukas und es ist gut möglich, dass er dafür eine Erzählung verwendet hat, die
vermutlich in der Gemeinschaft von Damaskus entstanden war. Dieser Gedanke wird
auch durch das Lokalkolorit nahegelegt, das durch die Präsenz des Hananias und
durch die Erwähnung sowohl des Namens der Straße als auch des Eigentümers des
Hauses, in dem Paulus sich aufhielt, aufscheint (vgl. Apg 9, 11).
Die zweite Art von Quellen über die Bekehrung
stellen die Briefe des heiligen Paulus dar. Er hat niemals ausführlich über
dieses Ereignis berichtet – ich denke, weil er annehmen konnte, dass allen das
Wesentliche dieser seiner Geschichte bekannt war. Alle wussten, dass er vom
Verfolger in einen glühenden Apostel Christi verwandelt worden war. Und das war
nicht auf eigene Überlegung, sondern auf ein starkes Erlebnis hin erfolgt, auf
eine Begegnung mit dem Auferstandenen. Selbst wenn er nicht über Einzelheiten
spricht, spielt er verschiedene Male auf diese äußerst wichtige Tatsache an,
dass also auch er Zeuge der Auferstehung Jesu ist, deren Offenbarung er
unmittelbar von Jesus selbst erhalten hat, zusammen mit seiner Sendung als
Apostel. Der deutlichste Text über diesen Punkt findet sich in einem Bericht
über das, was den Mittelpunkt der Heilsgeschichte darstellt: Tod und
Auferstehung Jesu und sein Erscheinen vor Zeugen (vgl. 1 Kor 15).
Die fundamentale
Christusbegegnung
Mit Worten ältester Überlieferung, die auch er
von der Kirche von Jerusalem empfangen hat, sagt er, dass Jesus, der am Kreuz
gestorben ist, begraben wurde und auferstanden ist, nach seiner Auferstehung
zuerst dem Kephas, also Petrus, dann den Zwölf, dann fünfhundert Brüdern, die
großteils zu jener Zeit noch am Leben waren, dann dem Jakobus und dann allen
Aposteln erschienen ist. Und diesem von der Überlieferung empfangenen Bericht
fügt er hinzu: "Als letztem von allen erschien er auch mir" (1 Kor 15, 8). So
gibt er zu verstehen, dass dies das Fundament seines Apostolats und seines
neuen Lebens bildet. Es gibt noch weitere Texte, aus denen dasselbe hervorgeht:
"Durch Jesus Christus haben wir Gnade und Apostelamt empfangen" (vgl. Röm 1, 5)
oder auch: "Habe ich nicht Jesus, unseren Herrn, gesehen?" (1 Kor 9,1), Worte
mit denen er auf etwas anspielt, das alle wissen. Der verbreitetste Text findet
sich schließlich in Gal 1, 15–17: "Als aber Gott, der mich schon im Mutterleib
auserwählt und durch seine Gnade berufen hat, mir in seiner Güte seinen Sohn
offenbarte, damit ich ihn unter den Heiden verkündige, da zog ich keinen
Menschen zu Rate; ich ging auch nicht sogleich nach Jerusalem hinauf zu denen,
die vor mir Apostel waren, sondern zog nach Arabien und kehrte dann wieder nach
Damaskus zurück." In dieser "Selbstverteidigung" unterstreicht er mit
Entschiedenheit, dass auch er wahrer Zeuge des Auferstandenen ist, dass auch er
einen eigenen Auftrag besitzt, den er unmittelbar vom Auferstandenen empfangen
hat.
So können wir sehen, dass die beiden Quellen,
die Apostelgeschichte und die Briefe des heiligen Paulus, übereinstimmen und im
fundamentalen Punkt übereinkommen: der Auferstandene hat zu Paulus gesprochen,
er hat ihn zum Apostolat berufen, er hat aus ihm einen wirklichen Apostel
gemacht, einen Zeugen der Auferstehung, mit der besonderen Aufgabe, das
Evangelium den Heiden, der griechisch-römischen Welt zu verkünden. Und
gleichzeitig hat Paulus gelernt, dass er trotz der Unmittelbarkeit seiner
Beziehung mit dem Auferstandenen in die Gemeinschaft der Kirche eintreten, sich
taufen lassen, und im Einklang mit den anderen Aposteln leben muss. Nur in dieser
Gemeinschaft mit allen wird er ein wirklicher Apostel sein können, wie er
ausdrücklich im ersten Brief an die Korinther schreibt: "Ob nun ich verkündige
oder die anderen: das ist unsere Botschaft und das ist der Glaube, den ihr
angenommen habt". Es gibt nur eine Verkündigung des Auferstandenen, denn
Christus ist nur einer allein.
Wie man sieht, interpretiert Paulus diesen
Augenblick in all diesen Abschnitten nie als ein Ereignis der Bekehrung. Warum
nicht? Es gibt zahlreiche Hypothesen, doch für mich ist der Grund ziemlich
augenfällig. Diese Wende in seinem Leben, diese Verwandlung seines gesamten
Daseins, war nicht das Ergebnis eines psychologischen Prozesses, einer
intellektuellen oder moralischen Reifung oder Entwicklung, sondern sie kam von
außen: Sie war nicht das Ergebnis seines Denkens, sondern seiner Begegnung mit
Christus Jesus. In diesem Sinne war es nicht einfach nur eine Bekehrung, ein
Reifungsprozess seines "Ich", sondern es war Tod und Auferstehung für ihn
selbst: Sein eines Dasein starb, und es entstand daraus ein anderes, neues, mit
dem auferstandenen Christus. Auf keine andere Weise lässt sich diese Erneuerung
des Paulus erklären. Alle psychologischen Analysen können das Problem nicht
verstehbar machen und lösen. Allein das Ereignis, die starke Begegnung mit
Christus, ist der Schlüssel, um zu verstehen, was geschehen war: Tod und
Auferstehung, Erneuerung durch Denjenigen, der sich gezeigt und mit ihm
gesprochen hatte. In diesem tieferen Sinn können und müssen wir von Bekehrung
sprechen. Diese Bekehrung ist eine wirkliche Erneuerung, die alle seine
Maßstäbe verändert hat. Jetzt kann er sagen, dass alles, was vorher wichtig und
wesentlich für ihn war, "Unrat" geworden ist; es ist kein "Gewinn" mehr,
sondern Verlust, weil nunmehr nur das Leben in Christus zählt.
Wir dürfen jedoch nicht denken, dass Paulus auf
diese Weise in einem Ereignis der Blindheit eingeschlossen worden wäre. Das
Gegenteil ist der Fall, da der auferstandene Christus das Licht der Wahrheit,
das Licht Gottes selbst ist. Das hat sein Herz erweitert, hat ihn allen
gegenüber offen gemacht. In diesem Moment hat er nicht verloren, was es an
Gutem und Wahrem in seinem Leben, in seinem Erbe gegeben hat, sondern er hat
auf neue Weise die Weisheit, die Wahrheit und die Tiefgründigkeit der Gesetze
und der Propheten erkannt, er hat sie sich auf neue Weise zu eigen gemacht.
Gleichzeitig hat sich seine Vernunft der Weisheit der Heiden gegenüber
geöffnet; da er sich Christus mit ganzem Herzen geöffnet hatte, war er zu einem
umfassenden Dialog mit allen fähig, war er fähig, allen alles zu werden. So
konnte er wirklich der Apostel der Heiden werden.
Wenn wir nun zu uns selbst kommen, fragen wir
uns, was dies für uns zu bedeuten hat? Es bedeutet, dass auch für uns das
Christentum keine neue Philosophie oder Moral darstellt. Christen sind wir nur,
wenn wir Christus begegnen. Sicher zeigt Er sich uns nicht auf solch
unwiderstehliche, strahlende Weise wie dem Paulus, um ihn zum Apostel aller
Völker zu machen. Doch auch wir können Christus begegnen: in der Lektüre der
Heiligen Schrift, im Gebet, im liturgischen Leben der Kirche. Wir können das
Herz Christi berühren und spüren, wie Er das unsere berührt. Nur in dieser
persönlichen Beziehung zu Christus, nur in dieser Begegnung mit dem
Auferstandenen werden wir wirklich Christen. Und so öffnet sich unsere
Vernunft, öffnet sich die ganze Weisheit Christi und der ganze Reichtum der
Wahrheit. Beten wir also zum Herrn, dass er uns erleuchte, dass er uns in
unserer Welt die Begegnung mit seiner Gegenwart schenke: und dass er uns auf
diese Weise einen lebendigen Glauben gebe, ein offenes Herz, eine große Liebe
zu allen, die die Welt erneuern kann.