Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 4.2.09
Paulus (21)
Liebe Brüder und Schwestern!
Das erste klare Zeugnis über das Ende des heiligen Paulus stammt
aus der Mitte der neunziger Jahre des ersten Jahrhunderts, also wenig mehr als
drei Jahrzehnte nach seinem tatsächlichen Tod. Genauer gesagt handelt es sich
um den Brief, den die Kirche von Rom mit ihrem Bischof Klemens I. an die Kirche
von Korinth geschrieben hat. Dieses Schreiben fordert dazu auf, sich das
Beispiel der Apostel vor Augen zu halten und gleich nach der Erwähnung des
Martyriums Petri ist Folgendes zu lesen: „Aufgrund von Eifersucht und Streit
war Paulus gezwungen uns zu zeigen, wie man den Preis der Geduld gewinnt: Er
wurde sieben Mal festgenommen, vertrieben, gesteinigt, er war der Bote Christi im
Osten und im Westen, und für seinen Glauben hat er sich reinen Ruhm erworben.
Nachdem er der ganzen Welt Gerechtigkeit gepredigt und bis in den äußersten
Westen gelangt war hat er vor den Herrschern das Martyrium erlitten; so ist er
aus dieser Welt geschieden und an den heiligen Ort gelangt und somit das große
Vorbild der Geduld geworden“ (1 Clem 5, 2). Die Geduld von der hier gesprochen
wird, ist Ausdruck seiner Teilhabe am Leiden Christi, des Großmuts und der
Beständigkeit, mit der er einen langen Leidensweg angenommen hat, so dass er
sagen konnte: „Denn ich trage die Zeichen Jesu an meinem Leib“ (Gal 6, 17). Wir
haben im Text des heiligen Klemens gehört, dass Paulus bis in den „äußersten
Westen“ gelangt ist. Es wird diskutiert, ob dies der Hinweis auf eine Reise
nach Spanien sein soll, die der heiligen Paulus
unternommen hätte. Hierüber besteht keine Gewissheit, doch es ist wahr, dass
der heilige Paulus in seinem Brief an die Römer seine Absicht bekundet, nach
Spanien zu reisen (vgl. Röm 15, 24).
Sehr interessant im Klemensbrief ist indes die Aufeinanderfolge
der beiden Namen Petrus und Paulus, auch wenn sie im Zeugnis des Eusebius von
Cäsarea aus dem vierten Jahrhundert umgekehrt werden, der bei seinem Bericht
über Kaiser Nero schreibt: „Wie berichtet wird, wurde Paulus eben in Rom unter
Nero enthauptet und Petrus gekreuzigt. Dieser Bericht wird bestätigt durch die
noch bis heute erhaltenen Namen Petrus und Paulus in den römischen Zömeterien“
(Hist. eccl. 2, 25, 2). Eusebius fährt dann fort mit dem Bericht über die
vorhergehende Erklärung eines römischen Priesters namens Gaius, die auf den
Beginn des zweiten Jahrhunderts zurückgeht: „Ich kann die Siegeszeichen der
Apostel zeigen. Du magst auf den Vatikan gehen oder auf die Straße nach Ostia,
du findest die Siegeszeichen der Apostel, welche diese Kirche gegründet haben“
(ebd. 2, 25, 6–7). Die „Siegeszeichen“ sind die Grabmale und es handelt sich um
dieselben Grabstätten von Petrus und Paulus, die wir auch heute noch nach
zweitausend Jahren an denselben Orten verehrten: sowohl – was den heiligen
Petrus betrifft – hier im Vatikan als auch – was den Völkerapostel betrifft –
in der Basilika St. Paul vor den Mauern an der Via Ostiense. Es ist interessant
festzustellen, dass die beiden großen Apostel gemeinsam erwähnt werden. Auch
wenn keine der frühen Quellen erwähnt, dass sie gemeinsam ihr Amt in Rom
ausgeübt hätten, werden sie in der Folge vom christlichen Bewusstsein auf der
Grundlage ihrer gemeinsamen Bestattung in der Hauptstadt des Reiches auch als
Gründer der Kirche Roms miteinander verknüpft. So ist gegen Ende des zweiten
Jahrhunderts bei Irenäus von Lyon über die apostolische Nachfolge in den
verschiedenen Kirchen zu lesen: „Weil es aber zu weitläufig wäre, ... die
apostolische Nachfolge aller Kirchen aufzuzählen, so werden wir nur die
apostolische Tradition und Glaubenspredigt der größten und ältesten und
allbekannten Kirche, die von den beiden ruhmreichen Aposteln Petrus und Paulus
zu Rom gegründet und gebaut ist, darlegen“ (Adv. haer. 3, 3, 2).
Lassen wir nun jedoch die Gestalt des heiligen Petrus beiseite und
konzentrieren wir uns auf die des Paulus. Sein Martyrium wird zum ersten Mal in
den „Paulusakten“ erwähnt, die gegen Ende des zweiten Jahrhunderts geschrieben
wurden. In ihnen wird berichtet, dass Nero ihn zum Tod durch Enthauptung
verurteilte, die unmittelbar durchgeführt wurde (vgl. 9, 5). Das Todesdatum
variiert bereits in den frühen Quellen, die es zwischen der von Nero selbst
nach dem Brand Roms im Juli 64 ausgelösten Verfolgung und dem letzten Jahr
seiner Herrschaft, also dem Jahr 68 ansetzen (vgl. Hieronymus, De viris ill., 5, 8). Die Berechnung hängt stark vom Zeitpunkt der
Ankunft Paulus in Rom ab, eine Diskussion, auf die wir hier nicht näher
eingehen können. In den folgenden Überlieferungen werden zwei weitere Elemente
genauer herausgestellt. Das eine, legendäre, besagt, dass das Martyrium an den
Acquae Salviae auf der Via Laurentina erfolgte, wobei das Haupt dreimal
aufgeschlagen und dabei jedes Mal eine Wasserquelle entsprungen sei, weswegen
der Ort bis heute „Tre fontane“ heißt (Pseudo-Marcellus, Passio sanctorum Petri
et Pauli, aus dem fünften Jahrhundert). Der andere Faktor – in Übereinstimmung
mit dem bereits erwähnten frühen Zeugnis des Priesters Gaius – ist, dass sein
Begräbnis nicht nur „außerhalb der Stadt... an der zweiten Meile auf der Via
Ostiense“ stattfand, sondern genauer „auf dem Gut der Lucina“, einer hoch
stehenden christlichen Dame (Pseudo Abdias, Passio Pauli, aus dem sechsten
Jahrhundert). Hier errichtete Kaiser Konstantin im vierten Jahrhundert eine
erste Kirche, die dann zwischen dem vierten und fünften Jahrhundert von den
Kaisern Valentinian II., Theodosius und Arcadius beträchtlich erweitert wurde.
Nach dem Brand im Jahr 1800 wurde hier die jetzige Basilika Sankt Paul vor den
Mauern errichtet.
In jedem Fall ragt die Gestalt des heiligen Paulus weit über sein
irdisches Leben und über seinen Tod hinaus; tatsächlich hat er ein
außerordentliches spirituelles Erbe hinterlassen. Auch er wurde als wahrer
Schüler Jesu ein „Zeichen, dem widersprochen wird“. Während er unter den
sogenannten „Ebioniten“ – einer judenchristlichen Strömung – als jemand
angesehen wurde, der vom Gesetz des Mose abgefallen
war, ist bereits in der Apostelgeschichte eine große Verehrung des Apostels
Paulus festzustellen. Ich möchte hier von der apokryphen Literatur, wie den
Akten des Paulus und der Thekla sowie einem apokryphen Briefwechsel zwischen
dem Apostel Paulus und dem Philosophen Seneca absehen. Wichtig ist vor allem
die Feststellung, dass die Briefe des heiligen Paulus schon sehr bald Eingang
in die Liturgie finden, wo die Struktur Prophet-Apostel-Evangelium entscheidend
für die Form des Wortgottesdienstes ist. So wird das Denken des Apostels dank
dieser „Präsenz“ in der Liturgie der Kirche sofort zur geistlichen Nahrung der
Gläubigen aller Zeiten.
Es ist offensichtlich, dass Kirchenväter und dann alle Theologen
aus den Briefen des heiligen Paulus und aus seiner Spiritualität geschöpft haben.
Er ist über Jahrhunderte hinweg bis heute der wahre Lehrer und Apostel der
Völker geblieben. Der erste patristische Kommentar über eine Schrift des Neuen
Testaments, der uns überliefert ist, stammt von dem großen alexandrinischen
Theologen Origenes, der den Paulusbrief an die Römer auslegt. Dieser Kommentar
ist leider nur teilweise erhalten.
Der heilige Johannes Chrysostomus hat über den Kommentar seiner
Briefe hinaus auch sieben denkwürdige Panegyrikoi (Lobreden) über ihn verfasst.
Der heilige Augustinus wird ihm den entscheidenden Schritt seiner eigenen
Bekehrung verdanken und sein ganzes Leben lang auf Paulus zurückkommen. Aus dem
ständigen Dialog mit dem Apostel geht seine große katholische Theologie hervor.
Der heilige Thomas von Aquin hat uns zu den paulinischen Briefen einen schönen
Kommentar hinterlassen, der die ausgereifteste Frucht mittelalterlicher Exegese
darstellt. Eine regelrechte Wende erfolgte im fünfzehnten Jahrhundert mit der
protestantischen Reformation. Der entscheidende Moment im Leben Luthers war das
sogenannte „Turmerlebnis“ (1517), ein Augenblick, in dem er eine neue
Interpretation der paulinischen Rechtfertigungslehre entdeckte. Eine
Interpretation, die ihn von den Bedenken und Ängsten seines vorherigen Lebens
befreite und ihm ein neues, radikales Vertrauen in die Güte Gottes verlieh, der
alles bedingungslos verzeiht. Von diesem Moment an identifizierte Luther die
strenge jüdisch-christliche Einhaltung des Gesetzes, die der Apostel verurteilt
hatte, mit der Lebensordnung der katholischen Kirche. Und die Kirche erschien
ihm folglich als Ausdruck der Knechtschaft gegenüber dem Gesetz, dem er die
Freiheit des Evangeliums gegenüberstellte. Das Konzil von Trient, das von 1545
bis 1563 stattfand, interpretierte die Frage der Rechtfertigung auf tiefe Weise
und fand in der Linie der gesamten katholischen Tradition die Synthese zwischen
Gesetz und Evangelium, in Übereinstimmung mit der Botschaft der in ihrer
Gesamtheit und Einheit gelesenen Heiligen Schrift.
Das neunzehnte Jahrhundert entnahm der Aufklärung das Beste und
erlebte ein neues Aufleben des Paulinismus, jetzt vor allem auf der Ebene der
wissenschaftlichen Arbeit, die von der historisch-kritischen Interpretation der
Heiligen Schrift entwickelt wurde. Wir wollen hier einmal von der Tatsache
absehen, dass auch in jenem Jahrhundert, wie dann im zwanzigsten, eine wahre
Verunglimpfung des heiligen Paulus stattfand. Ich denke vor allem an Nietzsche,
der die Theologie der Demut des heiligen Paulus lächerlich machte und ihr seine
Theologie des starken und mächtigen Menschen entgegen setzte. Doch sehen wir
davon ab und schauen wir uns die wesentliche Strömung der wissenschaftlichen
Neuinterpretation der Heiligen Schrift und des neuen Paulinismus jenes
Jahrhunderts an. Hier ist vor allem das Konzept der Freiheit im paulinischen
Denken als zentral herausgestellt worden: in ihm wurde die Mitte des
paulinischen Denkens gesehen, wie es Luther im Übrigen bereits erahnt hatte.
Nun wurde das Konzept der Freiheit jedoch im Kontext des modernen Liberalismus
neu interpretiert. Zudem wird stark die Differenzierung zwischen der
Verkündigung des heiligen Paulus und der Verkündigung Jesu betont. Der heilige
Paulus erscheint fast wie ein neuer Gründer des Christentums. Es stimmt, dass
beim heiligen Paulus die Zentralität des Gottesreiches, die für die
Verkündigung Jesu entscheidend ist, in die Zentralität der Christologie
verwandelt wird, deren entscheidender Punkt das Ostergeheimnis ist. Und aus dem
Ostergeheimnis gehen die Sakramente der Taufe und der Eucharistie hervor, als
ständige Gegenwart jenes Geheimnisses, aus dem der Leib Christi erwächst, aus
dem die Kirche entsteht. Doch ich würde sagen – ohne dabei jetzt auf
Einzelheiten einzugehen –, dass sich gerade in der neuen Zentralität der
Christologie und des Ostergeheimnisses das Reich Gottes verwirklicht, dass es
konkret und gegenwärtig wird, die wirkliche Verkündigung Jesu darstellt. Wir
haben in den vorhergehenden Katechesen gesehen, dass gerade diese paulinische
Neuheit tiefste Treue gegenüber der Verkündigung Jesu ist. Mit der
Weiterentwicklung der Exegese, vor allem während der letzten zweihundert Jahre,
wachsen auch die Übereinstimmungen zwischen der katholischen und der
protestantischen Exegese und gelangen so gerade in dem Punkt zu einem bemerkenswerten
Konsens, der am Anfang der größten historischen Meinungsverschiedenheit stand.
Also eine große Hoffnung für die Sache des Ökumenismus, die so zentral für das
Zweite Vatikanische Konzil ist.
Zum Schluss möchte ich noch kurz auf die verschiedenen religiösen
Bewegungen hinweisen, die in der Moderne innerhalb der katholischen Kirche
entstanden sind und sich auf den Namen des heiligen Paulus beziehen. Das gilt
etwa im sechzehnten Jahrhundert für die „Kongregation des heiligen Paulus“, die
sogenannten Barnabiten, im neunzehnten Jahrhundert für die „Missionare des
heiligen Paulus“ oder Paulisten und im zwanzigsten Jahrhundert für die
vielseitige „Paulus-Familie“, die vom seligen Giacomo Alberione gegründet
wurde, sowie auch für das Säkularinstitut der „St. Paulus-Gesellschaft“. So
bleibt uns die Gestalt eines Apostels und eines äußerst fruchtbaren und tiefen
christlichen Denkers leuchtend vor Augen, dem sich zu nähern jedem hilfreich
sein kann. In einem seiner Panegyrikoi hat der heilige Johannes Chrysostomus einen
originellen Vergleich zwischen Paulus und Noah aufgestellt und das
folgendermaßen ausgedrückt: Paulus „hat keine Bretter zusammengefügt, um eine
Arche zu bauen; statt Holzlatten miteinander zu verbinden, hat er vielmehr
Briefe verfasst und so nicht zwei, drei oder fünf Mitglieder seiner eigenen
Familie den Fluten entrissen, sondern die gesamte Welt, die unterzugehen
drohte“ (Paneg. 1, 5). Gerade das kann der Apostel Paulus immer noch – und wird
es immer – tun. Aus ihm zu schöpfen, sowohl aus seinem apostolischen Beispiel
als auch aus seiner Lehre, wird also immer ein Ansporn wenn nicht gar eine
Garantie für die Festigung der christlichen Identität eines jeden von uns sowie
für die Verjüngung der gesamten Kirche sein.