Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 7.1.09
Paulus (18)
Liebe Brüder und Schwestern!
Das Bemühen um die
Vereinigung mit Christus ist das Vorbild, das uns auch der heilige Paulus gibt.
Wir wollen mit der Katechese, die ihm gewidmet ist, fortfahren und uns heute
damit beschäftigen, über einen der wichtigsten Aspekte seines Denkens zu
reflektieren, den Aspekt, der den Kult oder Gottesdienst betrifft, zu dem die
Christen aufgerufen sind. In der Vergangenheit hat man gerne von einer eher
anti-kultischen Tendenz des Apostels gesprochen, von einer „Spiritualisierung“
der Kult-Idee. Heute verstehen wir besser, dass Paulus im Kreuz Christi eine
historische Wende sieht, die den Kult auf radikale Weise verwandelt und
erneuert. Diese neue Sicht des Kultes taucht vor allem in drei Textabschnitten
aus dem Römerbrief auf.
1. Nachdem Paulus in Römer
3, 25 von der „Erlösung in Christus Jesus“ gesprochen hat, fährt er mit einer
für uns geheimnisvollen Formulierung fort und sagt folgendes: „Ihn hat Gott dazu
bestimmt, Sühne zu leisten mit seinem Blut, Sühne, wirksam durch Glauben“. Mit
diesem für uns eher seltsam klingenden Ausdruck – „Sühne zu leisten mit seinem
Blut“ – weist Paulus auf den sogenannten Ort der Versöhnung des alten Tempels
hin, also auf die Deckplatte der Bundeslade, die man sich als Berührungspunkt
zwischen Gott und dem Menschen vorstellte, als Ort Seiner geheimnisvollen
Gegenwart in der Welt der Menschen. Dieser „Ort der Versöhnung“ wurde am großen
Versöhnungstag – dem Yom Kippur – mit dem Blut von Opfertieren besprengt, mit
Blut, das symbolisch die Sünden des vergangenen Jahres mit Gott in Berührung
brachte, und so wurden die Sünden, die in den Abgrund der göttlichen Güte
gestoßen wurden, gewissermaßen von der Kraft Gottes absorbiert, überwunden,
vergeben. Das Leben begann von neuem.
Der heilige Paulus weist
auf diesen Ritus hin und sagt: Dieser Ritus war Ausdruck des Wunsches, dass wir
alle unsere Sünden wirklich in den Abgrund der göttlichen Liebe stoßen und auf
diese Weise auslöschen könnten. Doch mit Tierblut lässt sich das nicht
verwirklichen. Es bedurfte einer wirklicheren Berührung zwischen menschlicher
Schuld und göttlicher Liebe. Diese Berührung hat am Kreuz Christi
stattgefunden. Christus, der wahre Sohn Gottes, der wahrer Mensch geworden war,
hat all unsere Schuld auf sich genommen. Er selbst ist der Berührungspunkt
zwischen menschlicher Bedürftigkeit und göttlicher Barmherzigkeit; in seinem
Herzen wird die traurige Masse des Bösen, das von der Menschheit begangen
wurde, zersetzt und so erneuert sich das Leben.
Indem er diese Veränderung
anzeigt, sagt uns der heilige Paulus: Mit dem Kreuz Christi – der höchste Akt
der menschliche Liebe gewordenen göttlichen Liebe – ist der alte Kult mit
Tieropfern im Tempel von Jerusalem zu Ende. Dieser symbolische Kult, ein Kult
der Sehnsucht, wird nun durch den wirklichen Kult ersetzt: die in Christus
fleischgewordene und in seinem Tod am Kreuz zur Vollendung gebrachte Liebe
Gottes. Es handelt sich hier also nicht um die Spiritualisierung eines wirklichen
Kultes, sondern der wirkliche Kult, die wahre göttlich-menschliche Liebe,
ersetzt im Gegenteil den symbolischen und provisorischen Kult. Das Kreuz
Christi, seine Liebe mit Fleisch und Blut ist der wirkliche Gottesdienst, da er
der Wirklichkeit Gottes und des Menschen entspricht. Schon vor der äußeren
Zerstörung des Tempels war für Paulus das Zeitalter des Tempels und seines
Kults vorüber: Paulus findet sich hier in vollkommener Übereinstimmung mit den
Worten Jesu, der das Ende des Tempels und einen anderen Tempel, „der nicht von
Menschenhand gemacht ist“, angekündigt hatte – den Tempel seines auferstandenen
Leibes (vgl. Mk 14, 58; Joh 2, 19 ff). Das ist der erste Textabschnitt.
2. Der zweite Abschnitt,
über den ich heute reden möchte, findet sich im ersten Vers des zwölften
Kapitels aus dem Brief an die Römer. Wir haben ihn gehört und ich wiederhole
ihn nochmals: „Angesichts des Erbarmens Gottes ermahne ich euch, meine Brüder,
euch selbst als lebendiges und heiliges Opfer darzubringen, das Gott gefällt;
das ist für euch der wahre und angemessene Gottesdienst.“ In diesen Worten
zeigt sich ein offensichtlicher Widerspruch: Während das Opfer üblicherweise
den Tod des Opfers erfordert, spricht Paulus hingegen im Zusammenhang mit dem
Leben des Christen darüber. Der Ausdruck „euch selbst darzubringen“ nimmt
angesichts der folgenden Vorstellung des Opfers den kultischen Beigeschmack von
„spenden, anbieten“ an. Die Aufforderung „sich selbst darzubringen“ bezieht
sich auf die gesamte Person; so lädt er in Römer 6, 13 dazu ein, sich „als
Menschen zur Verfügung zu stellen“. Im übrigen fällt der ausdrückliche Bezug
auf die physische Dimension des Christen mit der Einladung zusammen, „Gott in
eurem Leib zu verherrlichen“ (vgl. 1 Kor 6, 20): Es handelt sich also darum,
Gott durch das konkrete tägliche Leben, das aus relationaler und wahrnehmbarer
Sichtbarkeit besteht, Ehre zu erweisen.
Ein solches Verhalten wird
von Paulus als „lebendiges und heiliges Opfer, das Gott gefällt“ bezeichnet.
Hier begegnen wir dem Wort „Opfer“. Im üblichen Gebrauch ist dieser Begriff
Teil eines sakralen Kontexts und dient dazu, das Schlachten eines Tieres zu
bezeichnen, von dem ein Teil zu Ehren der Götter verbrannt werden und ein
anderer Teil von den Opfernden in einem Festmahl verzehrt werden kann. Paulus
wendet ihn jedoch auf das Leben des Christen an. Tatsächlich bezeichnet er ein
solches Opfer unter der Verwendung von drei Adjektiven. Das erste – „lebendig“
– bringt eine Lebendigkeit zum Ausdruck. Das zweite – „heilig“ – erinnert an die
paulinische Vorstellung einer Heiligkeit, die nicht an Orte oder Gegenstände,
sondern an die Person des Christen selbst gebunden ist. Das dritte – „das Gott
gefällt“ – weist möglicherweise auf den häufig zu findenden biblischen Ausdruck
des Opfers „zum beruhigenden Duft“ (vgl. Lev 1, 13.17; 23, 18; 26, 31; etc.)
hin.
Gleich anschließend
definiert Paulus diese neue Art zu leben folgendermaßen: „das ist für euch der
wahre und angemessene Gottesdienst“. Die Kommentatoren dieses Textes wissen,
dass der griechische Ausdruck (tçn logikçn latreían) nicht einfach zu
übersetzen ist. Die Übersetzung der lateinischen Bibel lautet: „rationabile
obsequium“. Das Wort „rationabile“ erscheint auch im ersten Eucharistischen
Gebet, dem Römischen Kanon: In ihm wird dafür gebetet, dass Gott dieses Opfer
als „rationabile“ annehme. Die übliche deutsche Übersetzung „der wahre und
angemessene Gottesdienst“ gibt nicht alle Nuancen des griechischen (noch des
lateinischen) Textes wieder. In jedem Fall handelt es sich nicht um einen weniger
realen oder sogar nur metaphorischen Gottesdienst, sondern um einen konkreten
und realistischen Gottesdienst – einen Gottesdienst, in dem der Mensch selbst
in seiner Totalität als eines mit Verstand versehenen Wesens Anbetung und
Verherrlichung des lebendigen Gottes wird.
Diese paulinische
Formulierung, die dann im Römischen Eucharistischen Hochgebet wiederkehrt, ist
das Ergebnis einer langen Entwicklung der religiösen Erfahrung in den Christus
vorausgehenden Jahrhunderten. In dieser Erfahrung begegnen sich theologische
Entwicklungen des Alten Testaments und Strömungen des griechischen Denkens. Ich
möchte wenigstens einige Elemente dieser Entwicklung aufzeigen, Die Propheten
und viele Psalmen üben harte Kritik an den grausamen Tempelopfern. So heißt es
etwa in Psalm 50 (49), in dem Gott spricht: „Hätte ich Hunger, ich brauchte es
dir nicht zu sagen, denn mein ist die Welt und was sie erfüllt. Soll ich denn
das Fleisch von Stieren essen und das Blut von Böcken trinken? Bring Gott als
Opfer dein Lob... (V. 12–14). Im selben Sinne heißt es im folgenden Psalm 51
(50): „Schlachtopfer willst du nicht, ich würde sie dir geben; an Brandopfern
hast du kein Gefallen. Das Opfer, das Gott gefällt, ist ein zerknirschter
Geist, ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht
verschmähen“ (V. 18 f.). Im Buch Daniel – zur Zeit der erneuten Zerstörung des
Tempels seitens der hellenistischen Herrscher (zweites Jahrhundert vor
Christus) – finden wir einen neuen Schritt in dieselbe Richtung. Inmitten des
Feuers – also der Verfolgung, des Leidens – betet Asarja: „Wir haben in dieser
Zeit weder Vorsteher noch Propheten und keinen, der uns anführt, weder
Brandopfer noch Schlachtopfer, weder Speiseopfer noch Räucherwerk, noch einen
Ort, um dir die Erstlingsgaben darzubringen und um Erbarmen zu finden bei dir.
Du aber nimm uns an! Wir kommen mit zerknirschtem Herzen und demütigem Sinn.
Wie Brandopfer von Widdern und Stieren... so gelte heute unser Opfer vor dir
und verschaffe uns bei dir Sühne“ (Dan 3, 38 ff.). In der Zerstörung des
Heiligtums und des Kultes, in diesem Zustand des Entzugs jedes Zeichens der
Gegenwart Gottes, bietet der Gläubige als wahres Brandopfer sein zerknirschtes
Herz an – sein Verlangen nach Gott.
Wir sehen hier eine
wichtige Entwicklung, die schön ist, aber eine Gefahr in sich birgt. Es handelt
sich um eine Spiritualisierung, eine Moralisierung des Kultes: Der Kult wird
auf diese Weise ausschließlich eine Sache des Herzens, des Geistes. Doch es
fehlt der Leib, es fehlt die Gemeinschaft. So versteht man zum Beispiel, dass
Psalm 51 und auch das Buch Daniel sich trotz der Kultkritik eine Rückkehr zur
Zeit der Opfer wünschen. Doch es handelt sich um eine erneuerte Zeit, ein
erneuertes Opfer, in einer Synthese, die noch nicht vorhersehbar war, die noch
nicht gedacht werden konnte.
Kehren wir zum heiligen
Paulus zurück. Er ist der Erbe dieser Entwicklungen, des Verlangens nach dem
wahren Gottesdienst, in dem der Mensch selbst Ruhm Gottes wird, lebendige
Anbetung mit seinem gesamten Dasein. In diesem Sinne sagt er den Römern, sich
„selbst als lebendiges und heiliges Opfer darzubringen, das Gott gefällt; das
ist für euch der wahre und angemessene Gottesdienst“ (Röm 12, 1). Paulus
wiederholt so, worauf er in Kapitel 3 bereits hingewiesen hatte: Die Zeit der
Tieropfer, der Ersatzopfer ist vorbei. Es ist die Zeit des wahren
Gottesdienstes gekommen. Doch hier besteht auch die Gefahr eines
Missverständnisses: man könnte den neuen Gottesdienst leicht in einem
moralistischen Sinn interpretieren: indem wir unser Leben anbieten, machen wir
den neuen Gottesdienst. Auf diese Weise würde der Tierkult durch Moralismus
ersetzt: Der Mensch würde alles aus sich selbst mit seinem moralischen Bemühen
tun. Und das war gewiss nicht die Absicht des heiligen Paulus. Doch es bleibt
die Frage: Wie also sollen wir diesen „geistlichen, vernünftigen Gottesdienst“
interpretieren? Paulus setzt immer voraus, dass wir alle „einer in Christus
Jesus“ (Gal 3, 28) geworden sind, dass wir in der Taufe gestorben sind (vgl.
Röm 1) und jetzt mit Christus, für Christus und in Christus leben. In dieser
Vereinigung – und nur so – können wir in Ihm und mit Ihm „lebendiges Opfer“
werden, den „wahren Gottesdienst“ anbieten.
Die geopferten Tiere hätten
den Menschen, die Selbsthingabe des Menschen ersetzen sollen und konnten es
nicht. Jesus Christus ist in seiner Hingabe an den Vater und an uns kein
Ersatz, sondern er trägt wirklich das menschliche Sein, unsere Schuld und unser
Verlangen in sich; er verkörpert uns wirklich, er nimmt uns in sich auf. In der
Gemeinschaft mit Christus, die sich im Glauben und in den Sakramenten
verwirklicht, werden wir, trotz all unserer Unzulänglichkeiten, lebendiges
Opfer: Es verwirklicht sich der „wahre Gottesdienst“.
Diese Synthese liegt dem
Römischen Kanon zugrunde, in dem gebetet wird, dass dieses Opfer „rationabile“
sein möge – dass sich der „geistliche Gottesdienst“ verwirkliche. Die Kirche
weiß, dass in der Allerheiligsten Eucharistie die Selbsthingabe Christi, sein
wahres Opfer gegenwärtig wird. Doch die Kirche betet, dass die feiernde
Gemeinschaft wirklich mit Christus vereint sein möge, dass sie verwandelt
werde; sie betet, damit wir selbst das werden, was wir aus unserer Kraft nicht
werden können: eine Gabe, die „rationabile“ ist, die Gott gefällt. So
interpretiert das Eucharistische Gebet die Worte des heiligen Paulus auf die
richtige Weise. Der heilige Augustinus hat das alles auf wunderbare Weise im
zehnten Buch seines „Gottesstaats“ erklärt. Ich zitiere nur zwei Sätze: „Das
ist das Opfer der Christen: „die vielen ein Leib in Christus“... „Die gesamte
erlöste Gemeinde (civitas), das heißt die Vereinigung und Gemeinschaft der
Heiligen, wird als ein allumfassendes Opfer Gott dargebracht durch den
Hohenpriester, der seinerseits auch sich ... dargebracht hat“ (10, 6: CCL 47,
27 ff).
3. Zum Schluss noch ein
kurzes Wort über den dritten Text aus dem Brief an die Römer, der den neuen
Gottesdienst betrifft. Der heilige Paulus sagt in Kapitel 15 folgendes: „Ich
tat es kraft der Gnade, die mir von Gott gegeben ist, damit ich als Diener
(„Liturge“) Christi Jesu für die Heiden wirke und das Evangelium Gottes wie ein
Priester verwalte (hierourgein); denn die Heiden sollen eine Opfergabe werden,
die Gott gefällt, geheiligt im Heiligen Geist“ (15, 15 f.). Ich möchte nur auf
zwei Aspekte dieses wunderbaren und in Bezug auf die Terminologie in den
paulinischen Briefen einzigartigen Textes hinweisen. Vor allem interpretiert
der heilige Paulus sein missionarisches Handeln unter den Völkern in der Welt,
um die universale Kirche aufzubauen, als priesterliches Handeln. Das Evangelium
zu verkünden, um die Völker in der Gemeinschaft des auferstandenen Christus zu
vereinen, ist ein „priesterliches“ Handeln. Der Apostel des Evangeliums ist ein
wahrer Priester, er tut das, was im Zentrum des Priestertums steht: Er bereitet
das wahre Opfer vor. Und dann der zweite Aspekt: Das Ziel des missionarischen
Handelns ist – so können wir sagen – die kosmische Liturgie: dass die in
Christus vereinten Völker, die Welt als solche Ruhm Gottes wird, „eine Opfergabe,
die Gott gefällt, geheiligt im Heiligen Geist“. Hier zeigt sich der dynamische
Aspekt, der Aspekt der Hoffnung in der paulinischen Gottesdienstvorstellung:
Die Selbsthingabe Christi impliziert die Tendenz, alle in die Gemeinschaft
seines Leibes hineinzuziehen, die Welt zu vereinen. Nur in der Gemeinschaft mit
Christus, dem exemplarischen Menschen, eins mit Gott, wird die Welt so, wie wir
alle sie uns ersehnen: Spiegel der göttlichen Liebe. Diese Dynamik ist in der
Eucharistie immer gegenwärtig – diese Dynamik muss unser Leben inspirieren und
formen. Und mit dieser Dynamik beginnen wir das neue Jahr. Ich danke für Eure
Geduld.