Papst Benedikt XVI. Generalaudienz am 25.1.12

Hohepriesterliches Gebet

Liebe Brüder und Schwestern!

In der heutigen Katechese richten wir unsere Aufmerksamkeit auf das Gebet, das Jesus in der "Stunde" seiner Erhöhung und seiner Verherrlichung an den Vater richtet (vgl. Joh 17, 1–26). Wie es im Katechismus der Katholischen Kirche heißt: "Die christliche Überlieferung nennt es mit Recht das ,hohepriesterliche' Gebet Jesu. Es ist das Gebet unseres Hohenpriesters; es lässt sich nicht von seinem Opfer trennen, von seinem ,Gehen zum Vater' (Pascha), durch das er dem Vater ganz ,geweiht' wird" (Nr. 2747).

Dieses Gebet Jesu ist vor allem dann in seinem extremen Reichtum verständlich, wenn wir es vor dem Hintergrund des jüdischen Versöhnungsfestes, des Jom Kippur betrachten. An diesem Tag erwirkt der Hohepriester Sühne, zunächst für sich, dann für die Priesterschaft und schließlich für die ganze Gemeinschaft des Volkes. Das Ziel ist, dem Volk Israel nach den Vergehen eines Jahres das Bewusstsein der Versöhnung mit Gott zurückzugeben, das Bewusstsein, das erwählte Volk zu sein, "heiliges Volk" inmitten der anderen Völker. Das Gebet Jesu, das im siebzehnten Kapitel des Evangeliums nach Johannes angeführt wird, nimmt die Struktur dieses Festes auf. Jesus wendet sich in dieser Nacht in dem Moment an den Vater, in dem er sich selbst darbringt. Er, Priester und Opfer, betet für sich, für die Apostel und für alle, die an Ihn glauben werden, für die Kirche aller Zeiten (vgl. Joh 17, 20).

Das Gebet, das Jesus für sich selbst spricht, ist die Bitte um seine Verherrlichung, um seine "Erhöhung" in seiner "Stunde". In Wirklichkeit ist es mehr als eine Bitte. Es ist die Erklärung seiner vollen Bereitschaft, freiwillig und großherzig in den Plan Gottes, des Vaters, einzutreten, der sich durch seine Auslieferung, seinen Tod und seine Auferstehung erfüllt. Diese "Stunde" beginnt mit dem Verrat durch Judas (vgl. Joh 13, 31) und wird darin gipfeln, dass der auferstandene Christus zum Vater hinaufgeht (vgl. Joh 20, 17). Als Judas den Abendmahlssaal verlässt, kommentiert Jesus das mit den Worten: "Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht und Gott ist in ihm verherrlicht" (Joh 13, 31). Nicht zufällig beginnt er das hohepriesterliche Gebet mit den Worten: "Vater, die Stunde ist da. Verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrlicht" (Joh 17, 1). Die Verherrlichung, die Jesus, als Hohepriester, für sich selbst erbittet, ist das Eintreten in den vollkommenen Gehorsam gegenüber dem Vater, ein Gehorsam, der ihn zu seinem vollen Sohnsein führt: "Vater, verherrliche du mich jetzt bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, bevor die Welt war" (Joh 17, 5). Diese Bereitschaft und diese Bitte sind die erste Handlung des neuen Priestertums Jesu, das die totale Selbsthingabe am Kreuz ist, und gerade am Kreuz – dem höchsten Akt der Liebe – wird Er verherrlicht, weil die Liebe die wahre Herrlichkeit, die göttliche Herrlichkeit ist.

Der zweite Moment dieses Gebets ist die Fürsprache Jesu für die Jünger, die bei ihm waren. Sie sind diejenigen, von denen Jesus zum Vater sagen kann: "Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie gehörten dir und du hast sie mir gegeben, und sie haben an deinem Wort festgehalten" (Joh 17, 6). "Den Namen Gottes den Menschen offenbaren" ist die Verwirklichung einer neuen Gegenwart des Vaters inmitten des Volkes, inmitten der Menschheit. Dieses "Offenbaren" ist nicht nur ein Wort, sondern es ist Wirklichkeit in Jesus; Gott ist mit uns, und so wird der Name – seine Gegenwart mit uns, die Tatsache, einer von uns zu sein – "verwirklicht". Dieses Offenbaren verwirklicht sich also in der Fleischwerdung des Wortes. In Jesus geht Gott in das menschliche Fleisch ein, wird er uns auf einzigartige und neue Weise nahe. Und diese Gegenwart gipfelt im Opfer, das Jesus in Seinem Pascha des Todes und der Auferstehung verwirklicht.

Im Mittelpunkt dieses Fürsprache- und Sühnegebets für die Jünger steht die Bitte um Heiligung; Jesus sagt zum Vater: "Sie sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin. Heilige sie in der Wahrheit; dein Wort ist Wahrheit. Wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in die Welt gesandt. Und ich heilige mich für sie, damit auch sie in der Wahrheit geheiligt sind" (Joh 17, 16–19). Ich frage: was bedeutet "heiligen" in diesem Fall? Zunächst muss man sagen, dass eigentlich nur Gott "geheiligt" oder "heilig" ist. Heiligen bedeutet also die Übereignung einer Realität – einer Person oder einer Sache – an Gott. Und darin sind zwei einander ergänzende Aspekte enthalten: Auf der einen Seite bedeutet es, von den allgemeinen Dingen ablösen, trennen, aus dem persönlichen Lebensbereich des Menschen "aussondern", um ganz Gott übergeben zu werden, und auf der anderen Seite hat dieses Ablösen, diese Übertragung in die Sphäre Gottes die Bedeutung der "Sendung", des Auftrags: Gerade weil sie Gott übergeben wird, ist die geweihte Person "für" die anderen da, wird sie den anderen übergeben. Das Übergeben an Gott bedeutet, nicht mehr für sich selbst, sondern für alle da zu sein. Geheiligt ist, wer wie Jesus von der Welt abgelöst und für Gott im Hinblick auf eine Aufgabe ausgesondert ist und gerade deswegen allen ganz und gar zur Verfügung steht. Für die Jünger wird das darin bestehen, die Sendung Jesu weiterzuführen, Gott übergeben zu sein, um so für alle gesandt zu sein. Am Abend des Osterfestes wird der Auferstandene seinen Jüngern erscheinen und sagen: "Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch" (Joh 20, 21).

Ein dritter Moment dieses hohepriesterlichen Gebets weitet den Blick bis auf das Ende der Zeiten aus. Jesus wendet sich an den Vater, um für alle Fürsprache einzulegen, die durch die Sendung, die von den Aposteln begonnen und dann in der Geschichte weitergeführt wird, zum Glauben kommen werden: "Jesus hat das Werk des Vaters ganz erfüllt, und wie sein Opfer währt auch sein Gebet bis zum Ende der Zeit. Das Gebet der Stunde erfüllt die letzten Zeiten und bringt sie ihrer Vollendung entgegen" (Nr. 2749).

Die zentrale Bitte des hohepriesterlichen Gebets Jesu, das seinen Jüngern aller Zeiten gewidmet ist, ist die der künftigen Einheit aller, die an Ihn glauben werden. Diese Einheit ist kein weltliches Phänomen. Sie geht ausschließlich aus der göttlichen Einheit hervor und kommt aus dem Vater durch den Sohn und im Heiligen Geist zu uns. Jesus bittet um eine Gabe, die vom Himmel kommt und ihre – realen und wahrnehmbaren – Auswirkungen auf der Erde hat. Er bittet: "Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast" (Joh 17, 21). Auf der einen Seite ist die Einheit der Christen eine verborgene Realität im Herzen der Menschen, die glauben. Doch gleichzeitig muss sie mit aller Deutlichkeit in der Geschichte sichtbar werden; sie muss sichtbar werden, damit die Welt glaube; sie hat ein ganz praktisches und konkretes Ziel: Sie muss sichtbar werden, damit wirklich alle eins werden. Die Einheit der künftigen Jünger ist, da sie Einheit mit Jesus ist – den der Vater in die Welt gesandt hat –, auch der Ursprung der Wirksamkeit der christlichen Sendung in der Welt.

Wir können sagen, dass sich im hohepriesterlichen Gebet Jesu die Stiftung der Kirche vollzieht. Gerade hier, im Akt des Letzten Abendmahls, schafft Christus die Kirche. "Denn was ist die Kirche anderes als die Gemeinschaft der Jünger, die durch den Glauben an Jesus Christus als den Gesandten des Vaters ihre Einheit empfängt und hineingehalten ist in die Sendung Jesu, die Welt zur Erkenntnis Gottes zu führen und sie so zu retten? Die Kirche entspringt dem Gebet Jesu. Dieses Gebet aber ist nicht nur Wort, es ist der Akt, in dem er sich selbst ,heiligt', das heißt sich ,opfert' für das Leben der Welt" (Jesus von Nazaret II, Freiburg im Breisgau 2011, S. 119).

Jesus betet, dass seine Jünger eins seien. Kraft dieser empfangenen und bewahrten Einheit kann die Kirche in der Welt sein, ohne von der Welt zu sein (vgl. Joh 17, 16) und die ihr anvertraute Sendung ausführen, damit die Welt an den Sohn glaube und an den Vater, der Ihn gesandt hat. Die Kirche wird also der Ort, an dem die Sendung Christi weitergeführt wird: die "Welt" aus der Entfremdung des Menschen von Gott und von sich selbst sowie aus der Sünde hinauszuführen, damit sie wieder die Welt Gottes werde.

Liebe Brüder und Schwestern, wir haben einige Elemente des großen Reichtums des hohepriesterlichen Gebets Jesu erfasst, das zu lesen und über das nachzudenken ich Euch auffordere, damit es uns im Dialog mit dem Herrn leite, damit es uns lehre zu beten. Auch wir bitten Gott also in unserem Gebet, dass er uns helfe, auf vollkommenere Weise in den Plan einzutreten, den er mit jedem von uns hat; bitten wir Ihn, Ihm "geheiligt" zu werden; Ihm immer mehr zu gehören, damit wir die Anderen, die Nahen und die Fernen, immer mehr lieben können; bitten wir Ihn, dass wir immer fähig sein werden, unser Gebet den Dimensionen der Welt zu öffnen, und uns nicht in der Bitte um Hilfe für unsere Probleme verschließen, sondern unseren Nächsten vor den Herrn bringen und die Schönheit erfahren, für die anderen Fürsprache einzulegen; bitten wir Ihn um die Gabe der sichtbaren Einheit aller, die an Christus glauben – wir haben in dieser Gebetswoche für die Einheit der Christen eindringlich dafür gebetet –; beten wir dafür, immer bereit zu sein, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die uns erfüllt (vgl. 1 Petr 3, 15). Danke.

 

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