Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 12.10.11
Gebet im AT: Psalm 126
Liebe Brüder und Schwestern!
Im Namen ganz Israels beginnt
der Psalmist sein Gebet, indem er an die wunderbare Erfahrung der Errettung
erinnert:
"Als der Herr das Los der
Gefangenschaft Zions wendete, da waren wir alle wie Träumende. Da war unser
Mund voll Lachen und unsere Zunge voll Jubel" (V 1-2a).
Der Psalm spricht vom "Wenden
des Loses", das heißt der Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands, in
seinem ganzen vorherigen, positiven Charakter. Es wird also von einer Situation
des Leidens und der Not ausgegangen, auf die Gott antwortet, indem er Errettung
bewirkt und den Betenden wieder in den vormaligen, beziehungsweise in einen
bereicherten und zum Besseren verwandelten Zustand versetzt. Das geschieht
Hiob, als der Herr ihm alles zurückgibt, was er verloren hat, es verdoppelt und
ihn noch mehr segnet als früher (vgl. Hiob 42,10-13), und das erfährt das Volk
Israel, als es aus dem babylonischen Exil in die Heimat zurückkehrt. Und gerade
im Bezug auf das Ende der Gefangenschaft in einem fremden Land wird dieser
Psalm interpretiert: der Ausdruck "das Los Zions wenden" wird von der Tradition
als "die Gefangenen Zions zurückkehren lassen" gelesen und verstanden.
Tatsächlich ist die Rückkehr aus dem Exil ein Beispiel für jedes erlösende
göttliche Eingreifen, da der Fall Jerusalems und die Babylonische
Gefangenschaft eine furchtbare Erfahrung für das erwählte Volk waren, nicht nur
auf politischer und gesellschaftlicher, sondern auch und vor allem auf
religiöser und geistlicher Ebene. Der Verlust des Landes, das Ende der
Königsherrschaft Davids und die Zerstörung des Tempels erscheinen wie ein
Widerruf der göttlichen Verheißungen und das unter den Heiden zerstreute
Bundesvolk stellt sich schmerzliche Fragen über einen Gott, der es verlassen zu
haben scheint. Das Ende der Gefangenschaft und die Rückkehr in die Heimat
werden daher als eine wunderbare Rückkehr zum Glauben, zum Vertrauen, zur
Gemeinschaft mit dem Herrn erfahren; das "Los wird gewendet", was auch die
Umkehr des Herzens, Vergebung, wiedergefundene Freundschaft mit Gott, das
Bewusstsein Seiner Barmherzigkeit und die erneuerte Möglichkeit, Ihn zu loben,
bedeutet (vgl. Jer 29,12-14; 30,18-20; 33,6-11; Ez 39,25-29). Es handelt sich
um eine Erfahrung überfließender Freude, des Lachens und der Jubelrufe, so
schön, dass sich alle "wie Träumende" fühlen. Das göttliche Eingreifen nimmt
häufig unerwartete Formen an und übersteigt das Vorstellungsvermögen des
Menschen; daher das Staunen und die Freude, die in diesem Lobpreis zum Ausdruck
kommen: "Der Herr hat... Großes getan". Das sagen die anderen Länder und das
verkündet Israel:
"Da sagte man unter den andern
Völkern: ,Der Herr hat an ihnen Großes getan. Ja, Großes hat der Herr an uns
getan. Da waren wir fröhlich" (V 2b-3).
Gott wirkt Wunder in der
Geschichte der Menschen. Durch sein Heilswirken offenbart er sich allen als
mächtiger und barmherziger Herr, Zufluchtsort der Bedrückten, der den Schrei
der Armen nicht vergisst (vgl. Ps 9,10.13), der Gerechtigkeit und Recht liebt
und von dessen Liebe die Erde erfüllt ist (vgl. Ps 33,5). Angesichts der
Befreiung des Volkes Israel erkennen daher alle Völker die großen und
wunderbaren Dinge, die Gott für sein Volk vollbringt und feiern den Herrn als
Erlöser. Israel stimmt der Verkündigung der anderen Länder zu und nimmt sie in
der Wiederholung auf, jedoch als Hauptfigur, als direkter Empfänger des
göttlichen Handelns: "Großes hat der Herr an uns getan"; "an uns" oder genauer
noch "mit uns" – auf hebräisch "immanu" –, wodurch jene bevorzugte Beziehung
bestätigt wird, die der Herr zu seinen Erwählten unterhält und die im Namen
"Immanuel", "Gott mit uns", mit dem Jesus bezeichnet wird, seinen Höhepunkt und
seine volle Ausdrucksform findet (vgl. Mt 1,23).
Liebe Brüder und Schwestern, in
unserem Gebet sollten wir öfter darauf schauen, wie uns der Herr in den
Wechselfällen unseres Lebens beschützt, geführt und geholfen hat, und ihn für
das, was er für uns getan hat und tut, lobpreisen. Wir sollten mehr auf das
Gute achten, das der Herr uns schenkt. Wir sehen immer die Probleme, die
Schwierigkeiten, und wollen gewissermaßen nicht wahrhaben, dass es schöne Dinge
gibt, die vom Herrn kommen. Dieses Schauen, das Dankbarkeit wird, ist sehr
wichtig für uns und schafft eine Erinnerung an das Gute, die uns auch in den
dunklen Stunden hilft. Gott vollbringt Großes, und wer das erfährt – indem er
mit aufmerksamem Herzen auf die Güte des Herrn achtet –, ist von Freude
erfüllt. Mit dieser freudigen Note endet der erste Teil des Psalms. Gerettet
sein und aus dem Exil in die Heimat zurückkehren ist wie eine Rückkehr zum
Leben: die Befreiung macht offen für das Lachen, doch auch für die Erwartung einer
Erfüllung, die noch zu wünschen und zu erbitten bleibt. Das ist der zweite Teil
unseres Psalms, der folgendermaßen lautet:
"Wende doch, Herr, unser
Geschick, wie du versiegte Bäche wieder füllst im Südland. Die mit Tränen säen,
werden mit Jubel ernten. Sie gehen hin unter Tränen und tragen den Samen zur
Aussaat. Sie kommen wieder mit Jubel und bringen ihre Garben ein" (V. 4-6).
Wenn der Psalmist zu Beginn
seines Gebets die Freude eines nunmehr vom Herrn gewendeten Loses feiert,
bittet er nun darum, als sei es etwas, das noch zu verwirklichen wäre. Wenn man
diesen Psalm auf die Rückkehr aus dem Exil bezieht, könnte dieser
offensichtliche Widerspruch durch die historische Erfahrung erklärt werden, die
Israel gemacht hat: eine schwierige, nur teilweise Rückkehr in die Heimat, die
den Beter dazu veranlasst, auf ein weiteres göttliches Eingreifen zu drängen,
um zur vollen Wiederherstellung des Volkes zu führen.
Doch der Psalm geht über das
rein geschichtliche Datum hinaus, um sich weiter gefassten Dimensionen
theologischer Art zu öffnen. Die tröstliche Erfahrung der Befreiung aus Babylon
ist noch unvollständig, "schon" erfolgt, aber "noch nicht" durch endgültige
Fülle gekennzeichnet. Während das Gebet freudig das empfangene Heil preist,
öffnet es sich so der Erwartung voller Verwirklichung. Daher verwendet der
Psalm besondere Bilder, die in ihrer Komplexität auf die geheimnisvolle
Wirklichkeit der Erlösung verweisen, in der sich sowohl empfangene als auch
noch zu erwartende Gabe, Leben und Tod, träumerische Freude und schmerzliche
Tränen miteinander verbinden. Das erste Bild bezieht sich auf die trockenen
Wildbäche der Wüste Negev, die sich bei Regen mit reißendem Wasser füllen, das
dem ausgedörrten Boden neues Leben gibt und ihn wieder aufblühen lässt. Der Psalmist
bittet also darum, dass das Wenden des Loses des Volkes und die Rückkehr aus
dem Exil wie jenes Wasser seien: mitreißend und unaufhaltsam, fähig, die Wüste
in eine unendliche, von grünem Gras und Blumen bedeckte Weite zu verwandeln.
Das zweite Bild verlagert sich
von den kargen und felsigen Hügeln des Negev zu den Feldern, die von den Bauern
bestellt werden, um Nahrung zu gewinnen. Um vom Heil zu sprechen, wird hier an
die Erfahrung erinnert, die im Bereich der Landwirtschaft jedes Jahr aufs Neue
gemacht wird: der schwere und mühevolle Moment der Aussaat und dann die
ungestüme Freude der Ernte. Die Aussaat wird von Tränen begleitet, weil man
etwas sät, was noch zu Brot verarbeitet werden könnte, und sich einer Erwartung
voller Unsicherheit aussetzt: der Bauer arbeitet, bereitet den Boden vor, sät
aus, doch – wie das Gleichnis vom Sämann gut zum Ausdruck bringt – er weiß
nicht, wohin dieser Same fällt, ob die Vögel ihn essen werden, ob er sich
verbreiten, Wurzel fassen, Ähren hervorbringen wird (vgl. Mt 13,3-9; Mk 4,2-9;
Lk 8,4-8). Die Aussaat ist eine Geste des Vertrauens und der Hoffnung; es
bedarf des menschlichen Fleißes, doch dann muss er sich in ein ohnmächtiges
Warten fügen, wohl wissend, dass viele Faktoren für den guten Ausgang der Ernte
entscheidend sein werden und dass immer die Gefahr eines Misserfolgs droht. Und
doch wiederholt der Bauer Jahr für Jahr seine Handlung und sät aus. Und wenn
die Samen zu Ähren werden und die Felder sich mit Korn füllen, dann sehen wir
die Freude dessen, der sich einem außergewöhnlichen Wunder gegenübersieht.
Jesus kannte diese Erfahrung gut und hat mit den Seinen darüber gesprochen: "Er
sagte: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mann Samen auf seinen Acker
sät; dann schläft er und steht wieder auf, es wird Nacht und wird Tag, der
Samen keimt und wächst und der Mann weiß nicht, wie" (Mk 4,26-27). Es ist das
verborgene Geheimnis des Lebens, es sind die wunderbaren "großen Dinge" des
Heils, die der Herr in der Geschichte der Menschen wirkt und deren Geheimnis die
Menschen nicht kennen.
Wenn sich das göttliche
Eingreifen in Fülle offenbart, nimmt es ungestüme Ausmaße an, wie die Wildbäche
des Negev und wie das Korn auf den Feldern, wobei letzteres auch die typische
Unverhältnismäßigkeit der Dinge Gottes in Erinnerung ruft: die
Unverhältnismäßigkeit zwischen der Mühe der Aussaat und der unendlichen Freude
der Ernte, zwischen der Angst des Wartens und dem erfreulichen Anblick der
übervollen Kornspeicher, zwischen den kleinen Samen, die auf den Boden geworfen
wurden und den großen von der Sonne vergoldeten Garben. Bei der Ernte ist alles
verwandelt, das Weinen hat ein Ende, an seine Stelle treten jubelnde
Freudenrufe.
Auf alles das bezieht sich der
Psalmist, um vom Heil, von der Befreiung, dem Wenden des Loses, der Rückkehr
aus dem Exil zu sprechen. Die Babylonische Gefangenschaft ist wie jede andere
Situation des Leidens und der Krise mit ihrem schmerzlichen Dunkel aus Zweifeln
und scheinbarer Ferne Gottes in Wirklichkeit wie eine Aussaat, sagt unser
Psalm. Im Geheimnis Christi, im Licht des Neuen Testaments, wird die Botschaft
noch expliziter und deutlicher: der Gläubige, der durch jenes Dunkel geht, ist
wie das Weizenkorn, das in die Erde fällt und stirbt, um reiche Frucht zu
bringen (vgl. Joh 12,24); oder, um ein anderes Bild aufzunehmen, das Jesus
gerne verwendet, er ist wie die Frau, die unter Geburtsschmerzen leidet, um
sich schließlich darüber zu freuen, ein neues Leben zur Welt gebracht zu haben
(vgl. Joh 16,21).
Liebe Brüder und Schwestern,
dieser Psalm lehrt uns, dass wir in unserem Gebet stets offen für die Hoffnung
und fest im Glauben an Gott bleiben müssen. Auch wenn unsere Geschichte häufig
von Schmerz, Ungewissheit, von Momenten der Krise gezeichnet ist, ist sie eine
Heilsgeschichte und ein "Wenden des Loses". In Jesus endet unser Exil, und jede
Träne wird getrocknet im Geheimnis seines Kreuzes, des Todes, der in Leben
verwandelt wird, wie das Weizenkorn, das in der Erde bricht und zur Ähre wird.
Auch für uns ist diese Entdeckung Jesu Christi die große Freude des "Jas"
Gottes, der Wendung unseres Loses. Doch wie diejenigen, die, nachdem sie voller
Freude aus Babylon zurückgekehrt waren, eine ausgelaugte, verwüstete Erde
vorfanden, vor der Schwierigkeit des Säens standen und weinend gelitten haben,
da sie nicht wussten, ob es am Ende wirklich eine Ernte geben würde, so finden
auch wir nach der großen Entdeckung Jesu Christi – unser Leben, die Wahrheit,
der Weg –, wenn wir den Bereich des Glaubens betreten, in der "Erde des
Glaubens" häufig eine dunkles, hartes, schwieriges Leben, eine Aussaat unter
Tränen, doch in der Gewissheit, dass das Licht Christi uns am Ende wirklich die
große Ernte schenken wird. Und wir müssen das auch in den dunklen Nächten
lernen; wir dürfen nicht vergessen, dass das Licht da ist, dass Gott schon
mitten in unserem Leben ist und dass wir mit dem großem Vertrauen aussäen
können, dass das "Ja" Gottes stärker ist als wir alle. Es ist wichtig, diese
Erinnerung an die Gegenwart Gottes in unserem Leben nicht zu verlieren, diese
tiefe Freude, dass Gott in unser Leben getreten ist und uns befreit hat: es ist
die Dankbarkeit für die Entdeckung Jesu Christi, der zu uns gekommen ist. Und
diese Dankbarkeit verwandelt sich in Hoffnung, sie ist der Stern der Hoffnung,
die uns das Vertrauen schenkt, sie ist das Licht, da gerade die Schmerzen der
Aussaat der Beginn des neuen Lebens sind, der großen und endgültigen Freude
Gottes.