Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 5.10.11
Gebet im AT: Geborgenheit in Psalm 23
Liebe Brüder und Schwestern!
"Der Herr ist mein Hirte, nichts
wird mir fehlen" – so beginnt dieses schöne Gebet und evoziert das Bild der
Nomaden und Hirten sowie die Erfahrung der Beziehung, die zwischen dem Hirten
und den Schafen, die seine kleine Herde bilden, entsteht. Das Bild ruft eine
Atmosphäre des Zutrauens, der Vertrautheit, der Güte hervor: der Hirte kennt
jedes einzelne seiner Schäfchen, er ruft sie beim Namen und sie folgen ihm,
weil sie ihn kennen und ihm vertrauen (vgl. Joh 10, 2–4). Er sorgt für sie,
wacht über sie, wie über wertvollen Besitz, bereit sie zu verteidigen, ihr
Wohlergehen zu gewährleisten, sie in Frieden leben zu lassen. Nichts kann ihnen
fehlen, wenn der Hirte bei ihnen ist. Auf diese Erfahrung bezieht sich der
Psalmist, wenn er Gott seinen Hirten nennt und sich von Ihm zu sicheren Weiden
führen lässt: "Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum
Ruheplatz am Wasser. Er stillt mein Verlangen; er leitet mich auf rechten
Pfaden, treu seinem Namen" (V. 2–3).
Der Anblick, der sich uns eröffnet, ist der Anblick von grünen Auen und
von Quellen klaren Wassers, ein Ruheplatz des Friedens, zu dem der Hirte seine
Herde begleitet, ein Sinnbild der Orte des Lebens, zu denen der Herr den
Psalmisten führt, der wie die Schafe empfindet, die neben einer Quelle auf dem
Gras liegen, sich dort ausruhen, nicht in einem Zustand der Spannung oder der
Beunruhigung, sondern vertrauensvoll und unbesorgt, weil der Ort sicher und das
Wasser frisch ist und weil der Hirte über sie wacht. Und vergessen wir hier
nicht, dass die vom Psalm geschilderte Szene in einem Land angesiedelt ist, das
zum großen Teil aus Wüste besteht, verbrannt von der glühendheißen Sonne, wo
der halbnomadische Hirte mit seiner Herde in den trockenen Steppen lebt, die
sich um die Dörfer ausdehnen. Doch der Hirte weiß, wo Gras und frisches Wasser
zu finden sind, die wichtig für das Leben sind, er weiß zum Ruheplatz zu
führen, an dem "das Verlangen gestillt" wird und an dem es möglich ist, Kraft
und neue Energie zu schöpfen, um sich wieder auf den Weg zu machen.
Wie der Psalmist sagt, führt Gott ihn zu "grünen Auen" und zum
"Ruheplatz am Wasser", wo alles in Überfülle vorhanden ist, wo von allem
reichlich geschenkt wird. Wenn der Herr auch in der Wüste der Hirte ist, dem
Ort des Mangels und des Todes, lässt die Gewissheit einer tiefen Gegenwart des
Lebens nicht nach, so dass man sagen kann: "nichts wird mir fehlen". Denn dem
Hirten liegt das Wohl seiner Herde am Herzen, er passt seinen Rhythmus und
seine Bedürfnisse denen seiner Schafe an, er wandert und lebt mit ihnen, führt
sie auf "rechten" Pfaden, also auf solchen, die für sie geeignet sind, wobei er
auf ihre Bedürfnisse achtet und nicht auf seine. Die Sicherheit seiner Herde
hat Vorrang bei ihm und dem folgt er, wenn er sie führt.
Liebe Brüder und Schwestern, auch wir sind gewiss, dass wir, wenn wir,
wie der Psalmist, dem "guten Hirten" hinterher wandern – wie schwierig,
verschlungen oder lang uns die Wege unseres Lebens auch vorkommen mögen, die
manchmal auch durch Gebiete geistlicher Wüste führen, ohne Wasser und mit der
glühenden Sonne des Rationalismus –, dass wir also unter der Führung des guten
Hirten, Christus, auf den "rechten" Wegen gehen und dass der Herr uns führt und
immer nahe ist und uns nichts fehlen wird. Daher kann der Psalmist Ruhe und Sicherheit
zum Ausdruck bringen, ganz ohne Ängstlichkeit und Furcht: "Muss ich auch
wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir,
dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht" (V. 4).
Wer mit dem Herrn geht, der fühlt sich auch in den finsteren Schluchten
des Leids, der Ungewissheit und aller menschlichen Probleme sicher. Du bist bei
mir: das ist die Gewissheit, die uns stützt. Das Dunkel der Nacht mit seinen
schwankenden Schatten, mit der Schwierigkeit, Gefahren zu erkennen, mit seiner
Stille, die von unbestimmten Geräuschen erfüllt ist, macht Angst. Wenn sich die
Herde nach dem Untergang der Sonne bewegt, wenn nichts mehr genau zu erkennen
ist, dann ist es normal, dass die Schafe unruhig werden, es besteht die Gefahr,
dass sie stolpern, sich von der Herde entfernen oder sich verlaufen, und es
herrscht auch Angst vor möglichen Angreifern, die sich in der Dunkelheit
verstecken. Um von der "finsteren" Schlucht zu sprechen, verwendet der Psalmist
einen hebräischen Ausdruck, der an die Finsternis des Todes gemahnt, daher ist
die Schlucht, die durchschritten werden muss, ein Ort der Angst, ein Ort
schrecklicher Bedrohungen, ein Ort der Todesgefahr. Und doch geht der Beter
sicher voran, furchtlos, weil er weiß, dass der Herr bei ihm ist. Dieses "du
bist bei mir" ist ein Bekenntnis unerschütterlichen Vertrauens und fasst die
Erfahrung tiefen Glaubens zusammen; die Nähe Gottes verwandelt die
Wirklichkeit, die tiefe Schlucht verliert jede Gefährlichkeit, ist bar jeder
Bedrohung. Die Herde kann nun ruhig weiterziehen, begleitet vom vertrauten
Geräusch des Stabs, der auf den Boden aufgesetzt wird und die beruhigende
Gegenwart des Hirten anzeigt.
Dieses tröstliche Bild beschließt den ersten Teil des Psalms und wird
von einer anderen Szene abgelöst. Wir befinden uns immer noch in der Wüste, wo
der Hirte mit seiner Herde lebt, doch jetzt werden wir in sein Zelt geführt,
das sich öffnet, um Gastfreundschaft zu gewähren: "Du deckst mir den Tisch vor
den Augen meiner Feinde. Du salbst mein Haupt mit Öl, du füllst mir reichlich
den Becher" (V. 5).
Nun wird der Herr als derjenige dargestellt, der den Beter mit den
Zeichen großherziger Gastfreundschaft und großer Aufmerksamkeit empfängt. Der
göttliche Gastgeber bereitet die Speisen auf dem "Tisch", einem Ausdruck, der
im Hebräischen in seiner ursprünglichen Bedeutung das Tierfell bezeichnet, das
auf den Boden gebreitet wurde und auf das man die Speisen für das gemeinsame
Mahl legte. Dies ist eine Geste des Teilens: nicht nur der Speise, sondern auch
des Lebens, in einem Angebot der Gemeinschaft und der Freundschaft, das
Bindungen schafft und Solidarität ausdrückt. Und dann ist da das großzügige
Geschenk duftenden Öls für das Haupt, das nach der brennenden Wüstensonne wohl
tut, das die Haut erfrischt und Linderung schafft und den Geist mit seinem
Wohlgeruch erfreut. Der reichlich gefüllte Becher fügt schließlich noch eine
festliche Note hinzu, mit seinem köstlichen Wein, der mit überreichlicher
Großherzigkeit geteilt wird.
Speisen, Öl, Wein: das sind die Gaben, die leben lassen und Freude
schenken, weil sie über das unbedingt Notwendige hinausgehen und die
Ungeschuldetheit und Fülle der Liebe zum Ausdruck bringen. In Psalm 104, der
die gütige Vorsehung des Herrn preist, heißt es: "Du lässt Gras wachsen für das
Vieh, auch Pflanzen für den Menschen, die er anbaut, damit er Brot gewinnt von
der Erde und Wein, der das Herz des Menschen erfreut, damit sein Gesicht von Öl
erglänzt und Brot das Menschenherz stärkt" (V. 14–15). Der Psalmist wird
Gegenstand zahlreicher Aufmerksamkeiten, so dass er sich als Wanderer sieht,
der Schutz in einem gastfreundlichen Zelt findet, während seine Feinde
zuschauen müssen, ohne eingreifen zu können, weil der, den sie als ihre Beute
betrachtet hatten, in Sicherheit gebracht und ein heiliger Gast, unberührbar,
geworden ist. Der Psalmist sind wir, wenn wir wirklich Gläubige in der
Gemeinschaft mit Christus sind. Wenn Gott sein Zelt öffnet, um uns aufzunehmen,
kann uns nichts Böses geschehen.
Wenn der Wanderer dann wieder aufbricht, hält der göttliche Schutz
weiter an und begleitet ihn auf seiner Reise: "Lauter Güte und Huld werden mir
folgen mein Leben lang und im Haus des Herrn darf ich wohnen für lange Zeit"
(V. 6).
Die Güte und die Huld Gottes sind das Geleit für den Psalmisten, der
das Zelt verlässt und sich wieder auf den Weg macht. Doch es handelt sich um
einen Weg, der einen neuen Sinn bekommt und eine Pilgerfahrt zum Tempel des
Herrn wird, der heiligen Stätte, an der der Beter für immer "wohnen" und zu der
er auch "zurückkehren" möchte. Das hier verwendete hebräische Wort hat die
Bedeutung "zurückkehren", doch mit einer kleinen Vokaländerung kann es als
"wohnen" verstanden werden und so wird es auch von den alten Versionen und vom
größten Teil der modernen Übersetzungen wiedergegeben. Beide Bedeutungen können
beibehalten werden: zum Tempel zurückzukehren und dort zu wohnen ist der Wunsch
jedes Israeliten, und nahe bei Gott, in seiner Nähe und Güte zu wohnen, danach
strebt und sehnt sich jeder Gläubige: wirklich wohnen zu können, wo Gott ist,
nahe bei Gott. Dem Hirten nachzufolgen, führt zu seinem Haus, es ist das Ziel
jedes Weges, ersehnter Ruheplatz in der Wüste, schützendes Zelt bei der Flucht
vor den Feinden, Ort des Friedens, wo Tag für Tag in der ruhigen Freude einer
endlosen Zeit die Güte und die treue Liebe Gottes erfahren werden können.
Die Bilder dieses Psalms haben mit ihrem Reichtum und ihrer Tiefe die
ganze Geschichte und religiöse Erfahrung des Volkes Israel begleitet und begleiten
die Christen. Vor allem die Figur des Hirten erinnert an die ursprüngliche Zeit
des Auszugs, an den langen Weg durch die Wüste, wie eine Herde unter der
Führung des göttlichen Hirten (vgl. Jes 63, 11–14; Ps 77, 20–21; 78, 52–54). Im
Land der Verheißung kam dem König die Aufgabe zu, die Herde des Herrn zu
weiden, wie David, der von Gott auserwählte Hirte und Figur des Messias (vgl. 2
Sam 5, 1–2; 7, 8; Ps 78, 70–72). Dann, nach dem Babylonischen Exil, wird Israel
gewissermaßen in einem neuen Exodus (vgl. Jes 40, 3–5.9–11; 43, 16–21) wie ein
verlorenes und wiedergefundenes Schaf in die Heimat zurückgebracht, von Gott
wieder zu üppigen Weiden und Ruhestätten geführt (vgl. Ez 34, 11–16.23–31).
Doch in Jesus, dem Herrn, gelangt die ganze evokative Kraft unseres
Psalm schließlich zu ihrer Erfüllung, findet sie zu ihrer vollen Bedeutung:
Jesus ist der "gute Hirte" der das verlorene Schaf sucht, der seine Schafe
kennt und sein Leben für sie hingibt (vgl. Mt 18, 12–14; Lk 15, 4–7; Joh 10,
2–4.11–18). Er ist der Weg, der rechte Weg, der uns zum Leben führt (vgl. Joh
14, 6), das Licht, das die finstere Schlucht erhellt und alle unsere Ängste
besiegt (vgl. Joh 1, 9; 8, 12; 9, 5; 12, 46).
Er ist der großherzige Gastgeber, der uns aufnimmt und vor den Feinden
in Sicherheit bringt, indem er uns den Tisch seines Leibes und Blutes (vgl. Mt
26, 26–29; Mk 14, 22–25; Lk 22, 19–20) sowie das endgültige messianische
Hochzeitsmahl im Himmel bereitet (vgl. Lk 14, 15ff.; Offb 3, 20; 19, 9). Er ist
der königliche Hirte, ein König in der Sanftmut und in der Vergebung, auf dem
Thron des glorreichen Kreuzes (vgl. Joh 3, 13–15; 12, 32; 17, 4–5).
Liebe Brüder und Schwestern, Psalm 23 lädt uns dazu ein, unser
Vertrauen auf Gott zu erneuern und uns ganz seinen Händen zu überlassen. Bitten
wir also voller Glauben, dass der Herr uns auch auf den schweren Wegen unserer
Zeit gewähre, immer als fügsame und gehorsame Herde auf seinen Pfaden zu
wandeln, dass er uns aufnehme in seinem Haus, an seinem Tisch, und uns zum
"Ruheplatz am Wasser" führe, damit wir in der Annahme des Geschenks seines
Geistes an seinen Quellen unseren Durst stillen können, Quellen lebendigen
Wassers, die "ewiges Leben schenken" (vgl. Joh 4, 14; 7, 37–39). Danke.