Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 2.3.11
Franz von Sales
Liebe Brüder und Schwestern!
Im Laufe seiner harmonischen Jugend durchlebte er, als er über die
Lehren des heiligen Augustinus und des heiligen Thomas von Aquin nachdachte,
eine tiefe Krise, während der er sich Fragen über sein ewiges Heil und über die
Prädestination Gottes hinsichtlich seiner Person stellte und somit die
wichtigsten theologischen Fragen seiner Zeit als ein wirkliches geistliches
Drama erlitt. Er betete inständig, doch der Zweifel quälte ihn auf so starke
Weise, dass er einige Wochen kaum essen und schlafen konnte. Auf dem Höhepunkt
dieser Prüfung begab er sich in die Pariser Dominikanerkirche, öffnete sein
Herz und betete folgendermaßen: „Was auch kommen mag, Herr, in dessen Hand
alles gelegt ist und dessen Wege alle Gerechtigkeit und Wahrheit sind; was
immer durch den ewigen Ratschluss der Vorherbestimmung über mich beschlossen
sein mag, der du stets ein gerechter Richter und barmherziger Vater bist: Ich
will dich wenigstens in diesem Leben lieben, mein Gott; ich werde immer auf
deine Barmherzigkeit hoffen und werde stets dein Lob vermehren... Herr Jesus,
du wirst immer meine Hoffnung und mein Heil im Land der Lebenden sein“ (Akten
des Seligsprechungsprozesses, Bd. I, Art. 4). Der zwanzigjährige Franz fand
seinen Frieden in der tiefgreifenden und befreienden Realität der Liebe Gottes:
Ihn lieben, ohne etwas dafür zu erwarten, und auf die göttliche Liebe
vertrauen; nicht mehr fragen, was Gott mit mir tun wird: Ich liebe ihn einfach,
unabhängig davon, was er mir gibt oder nicht gibt. So fand er den Frieden, und
die Frage der Prädestination – über die man in jener Zeit diskutierte – war
gelöst, denn er suchte nicht mehr als das, was er von Gott haben konnte; er
liebte ihn einfach; er überließ sich Seiner Güte. Und das wird das Geheimnis
seines Lebens sein, das in seinem Hauptwerk, der „Abhandlung über die
Gottesliebe“, durchscheinen wird.
Franz überwand den Widerstand des Vaters, folgte dem Ruf des Herrn
und wurde am 18. Dezember 1593 zum Priester geweiht. 1602 wurde er Bischof von
Genf, in einer Zeit, in der die Stadt die Hochburg des Calvinismus war, sodass
sich der Bischofssitz „im Exil“ in Annecy befand. Als Hirte einer armen und
gequälten Diözese, in einer Berglandschaft, deren Härte und Schönheit ihm beide
wohl vertraut waren, schreibt er: „Ich bin ihm [Gott] in seiner ganzen Güte und
Milde selbst inmitten unserer höchsten und rauesten Berge begegnet, wo viele
einfache Seelen ihn in aller Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit lieben und
anbeten, wo die Ziegen und Gemsen inmitten schrecklicher Gletscher
herumspringen und sein Lob künden“ (Brief an Mutter Chantal, Oktober 1606). Und
doch scheint der Einfluss seines Lebens und seiner Lehre auf das Europa seiner
Zeit und der folgenden Jahrhunderte immens. Er ist Apostel, Prediger,
Schriftsteller, ein Mann der Tat und des Gebets; er setzt sich für die
Umsetzung der Ideen des Konzils von Trient ein; in der Auseinandersetzung und
im Dialog mit den Protestanten erfährt er immer mehr – über die notwendige
theologische Gegenüberstellung hinaus – die Wirkung der persönlichen
Beziehungen und der Nächstenliebe; auf Europaebene wird er mit diplomatischen
Missionen und mit gesellschaftlichen Vermittlungs- und Versöhnungsaufgaben
betraut.
Doch vor allem ist der heilige Franz von Sales ein Seelenführer:
Aus der Begegnung mit der jungen Frau von Charmoisy wird er die Anregung
empfangen, eines der am meisten gelesenen Bücher der Moderne zu schreiben, die
„Anleitung zum frommen Leben“; aus seiner tiefen geistlichen Gemeinschaft mit
einer außergewöhnlichen Persönlichkeit, der heiligen Johannes Franziska von
Chantal, wird eine neue Ordensfamilie hervorgehen, der Orden der Heimsuchung,
der sich – wie der Heilige es wollte – durch vollkommene, in Einfachheit und Demut
gelebte Hingabe an Gott auszeichnete, dadurch, die gewöhnlichen Dinge
außergewöhnlich gut zu machen: „Ich möchte, dass meine Töchter“ – so schreibt
er – „keinen anderen Anspruch erheben, als ihn [unseren Herrn] durch ihre Demut
zu ehren“ (Brief an Erzbischof Marquemont, Juni 1615). Er stirbt 1622 im Alter
von fünfundfünfzig Jahren, nach einem Leben, das von der Härte der Zeit und von
apostolischer Mühe gezeichnet war.
Das Leben von Franz von Sales war relativ kurz, doch er hat es auf
intensive Weise gelebt. Von der Gestalt dieses Heiligen geht ein Eindruck
seltener Fülle aus, die sich in der Klarheit seiner geistigen Suche zeigt, aber
auch im Reichtum seiner Liebe, in der „Süße“ seiner Lehre, die einen großen
Einfluss auf das christliche Bewusstsein ausgeübt hat. Er hat verschiedene
Bedeutungen des Wortes „Humanität“ verkörpert, die dieser Begriff heute wie
damals beinhalten kann: Bildung und Freundlichkeit, Freiheit und
Liebenswürdigkeit, Edelmut und Solidarität. Sein Aussehen hatte etwas von der
Majestät der Landschaft, in der er lebte, deren Einfachheit und Natürlichkeit
er auch bewahrte. Die alten Worte und die Bilder, mit denen er sich ausdrückte,
klingen unerwarteterweise auch für den Menschen von heute wie eine wohlbekannte
und vertraute Sprache.
An Philothea, die ideale Adressatin seiner „Anleitung zum frommen
Leben“ (1607), richtet Franz von Sales eine Aufforderung, die zur damaligen
Zeit revolutionär erscheinen konnte. Es ist die Aufforderung, ganz Gott zu
gehören und in Fülle die Gegenwart in der Welt zu leben und die Aufgaben des
eigenen Standes wahrzunehmen: „Ich will gerade jenen helfen, die in der Stadt,
im Haushalt oder bei Hof leben...“ (Vorwort zur „Anleitung zum frommen Leben“).
Das Schreiben, mit dem Papst Pius IX. ihn mehr als zwei Jahrhunderte später zum
Kirchenlehrer proklamieren wird, geht ausführlich auf diese Erweiterung des
Rufs zur Vollkommenheit, zur Heiligkeit, ein. Darin heißt es: „[Die wahre
Frömmigkeit] ist bis zum Thron der Könige gedrungen, in die Zelte der
Heerführer, in die Amtsstuben der Richter, in die Kontore, in die Geschäfte und
sogar in die Hütten der Hirten [...]“ (Breve „Dives in misericordia”, 16.
November 1877). So entstand jener Aufruf an die Laien, jene Aufmerksamkeit für
die Weihung der weltlichen Dinge, für die Heiligung des Alltäglichen, auf die
das Zweite Vatikanische Konzil und die Spiritualität unserer Zeit eingehen
werden. Es zeigte sich das Ideal einer versöhnten Menschheit, im Einklang von
Wirken in der Welt und Gebet, von Weltlichkeit und Suche nach Vollkommenheit,
mit Hilfe der Gnade Gottes, die das Menschliche durchdringt und es, ohne es zu
zerstören, reinigt und zur Höhe Gottes erhebt. Dem Theotimus, dem erwachsenen,
geistlich reifen Christen, an den Franz von Sales einige Jahre später seine
„Abhandlung über die Gottesliebe“ (1616) richtet, bietet er eine komplexere
Lehre an. Zu Beginn geht er von einem präzisen Menschenbild aus, einer
Anthropologie: Die „Vernunft“ des Menschen, beziehungsweise seine „vernünftige
Seele“, wird dort wie ein harmonisches Bauwerk betrachtet, ein Tempel, der in
mehrere Räume aufgeteilt ist, um ein Zentrum herum, das er gemeinsam mit den
großen Mystikern als „Gipfel“, als „Spitze“ des Geistes oder „Grund“ der Seele
bezeichnet. Es ist der Punkt, an dem die Vernunft, nachdem sie alle Stufen
durchlaufen hat, „die Augen schließt“ und sich die Erkenntnis ganz mit der
Liebe vereint (vgl. Buch I, Kap. XII). Dass die Liebe in ihrer theologischen,
in ihrer göttlichen Dimension der Daseinsgrund aller Dinge ist, in einer
aufsteigenden Skala, die keine Brüche und Abgründe zu kennen scheint, hat der
heilige Franz von Sales in einem berühmten Satz zusammengefasst: „Der Mensch
ist Vollendung des Weltalls, der Geist Vollendung des Menschen, die Liebe
Vollendung des Geistes und die göttliche Liebe Vollendung des Liebe“ (ebd. Buch
X, Kap. I).
In einer intensiven Blütezeit der Mystik, stellt die „Abhandlung
über die Gottesliebe“ eine regelrechte „Summa“ und gleichzeitig ein
faszinierendes literarisches Werk dar. Ihre Beschreibung des Wegs zu Gott geht
vom Erkennen der „natürlichen Neigung“ (ebd. Buch I, Kap XVI) des Menschen aus,
Gott über alles zu lieben, die ihm – obgleich er sündig ist – ins Herz
eingeschrieben ist. Nach dem Vorbild der Heiligen Schrift spricht der heilige
Franz von Sales über die Vereinigung zwischen Gott und dem Menschen, indem er
eine ganze Reihe von Bildern interpersonaler Beziehungen entwickelt. Sein Gott
ist Vater und Herr, Bräutigam und Freund, er hat die Eigenschaften einer Mutter
und einer Amme, er ist die Sonne, deren Nacht sogar noch geheimnisvolle
Offenbarung darstellt. Ein solcher Gott zieht den Menschen mit dem Band der
Liebe, also dem Band wahrer Freiheit, an sich: „Denn die Liebe hält keine
Sträflinge und keine Sklaven, sondern stellt alles unter ihren Gehorsam mit
einer so bezaubernden Kraft, dass zwar nichts so stark ist wie die Liebe, aber
auch nichts so liebenswert wie ihre Kraft“ (ebd. Buch I, Kap. VI). In der
Abhandlung unseres Heiligen finden wir eine tiefgehende Betrachtung über den
menschlichen Willen und die Beschreibung seines Fließens, Vorübergehens,
Sterbens, um in der vollkommenen Hingabe nicht nur an den Willen Gottes zu
leben (vgl. ebd. Buch IX, Kap. XIII), sondern an das, was Ihm gefällt, Sein
„bon plaisir“, Sein Wohlgefallen (vgl. ebd. Buch IX, Kap. I). Auf dem Höhepunkt
der Vereinigung mit Gott, jenseits der Verzückung der kontemplativen Ekstase,
ist jenes Zurückfließen der konkreten Nächstenliebe anzusiedeln, die sich um
alle Bedürfnisse der anderen kümmert und die er als „Ekstase der Tat und des
Lebens“ bezeichnet (ebd. Buch VII. Kap. VI).
Man spürt deutlich, wenn man das Buch über die Gottesliebe und
mehr noch die vielen Briefe der geistlichen Führung und Freundschaft liest, wie
gut der heilige Franz von Sales das menschliche Herz kannte. Der heiligen
Franziska von Chantal schreibt er: „Dies soll die Grundregel unseres Gehorsams
sein: Ich schreibe sie in großen Buchstaben: Alles aus Liebe tun und nichts aus
Zwang! Mehr den Gehorsam lieben, als den Ungehorsam fürchten! – Ich lasse Ihnen
den Geist der Freiheit; nicht jenen, der den Gehorsam verneint, denn dies ist
die weltliche Freiheit, sondern jenen, der Zwang, Skrupel und Angst
ausschließt“ (Brief vom 14. Oktober 1604). Nicht zufällig finden wir am Anfang
vieler Wege der Erziehung und der Spiritualität unserer Zeit die Spur dieses
Lehrmeisters, ohne den es weder den heiligen Don Bosco noch den heroischen
„kleinen Weg“ der heiligen Therese von Lisieux gegeben hätte.
Liebe Brüder und Schwestern, in einer Zeit wie der unseren, die
die Freiheit auch mit Gewalt und Unruhe sucht, kann uns die Aktualität dieses
großen Lehrmeisters der Spiritualität und des Friedens nicht entgehen, der
seinen Schülern den „Geist der Freiheit“ verleiht, jener wahren Freiheit, am
Höhepunkt einer faszinierenden und vollständigen Lehre über die Liebe. Der
heilige Franz von Sales ist ein vorbildlicher Zeuge für den christlichen
Humanismus; mit seinem ungezwungenen Stil, mit Gleichnissen, die manchmal den
Flügelschlag der Poesie besitzen, ruft er in Erinnerung, dass dem Menschen in
seinem tiefsten Inneren die Sehnsucht nach Gott eingeschrieben ist und dass er
nur in Gott wahre Freude und seine volle Verwirklichung findet.