Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 10.6.09
Johannes Scotus
Liebe Brüder und Schwestern!
Johannes Scotus Eriugena verfügte über eine patristische – sowohl
griechische als auch lateinische – Bildung aus erster Hand: er kannte die
direkten Schriften der lateinischen und griechischen Kirchenväter. Unter
anderem waren ihm die Werke von Augustinus, von Ambrosius und von Gregor dem
Großen, den großen Vätern des christlichen Abendlands wohlvertraut, doch er
kannte ebenso gut das Denken von Origenes, Gregor von Nyssa, Johannes
Chrysostomus und den anderen nicht weniger großen christlichen Vätern des
Ostens.
Er war ein außergewöhnlicher Mensch, der zu jener Zeit auch die
griechische Sprache beherrschte. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er dem
heiligen Maximus Confessor und vor allem Dionysius Areopagita. Unter diesem Pseudonym
verbirgt sich ein Kirchenschriftsteller des fünften Jahrhunderts aus Syrien,
doch das ganze Mittelalter und auch Johannes Scotus Eriugena waren davon
überzeugt, dass dieser Autor mit einem direkten Schüler des heiligen Paulus
identisch war, von dem in der Apostelgeschichte (17, 34) die Rede ist. Scotus
Eriugena, der von der Apostolizität der Schriften des Dionysius überzeugt war,
bezeichnete ihn als „göttlichen Autor“ schlechthin; seine Schriften waren daher
eine vorrangige Quelle seines Denkens. Johannes Scotus übersetzte seine Werke
ins Lateinische. Die großen mittelalterlichen Theologen, wie der heilige
Bonaventura, haben die Werke des Dionysius durch diese Übersetzung
kennengelernt. Johannes Scotus hat sich sein ganzes Leben darum bemüht, das Denken
des Dionysius zu vertiefen und weiterzuentwickeln, indem er aus diesen
Schriften schöpfte, sodass es auch heute manchmal noch schwierig sein kann zu
unterscheiden, wo wir es mit dem Denken von Scotus Eriugena zu tun haben und wo
er hingegen nur das Denken des Pseudo-Dionysius wiederholt.
In Wahrheit war der theologischen Arbeit von Johannes Scotus kein
großes Glück beschieden. Nicht nur das Ende der Karolingerzeit ließ seine Werke
in Vergessenheit geraten; auch die Zensur seitens der kirchlichen Autorität
ließ einen Schatten auf seine Gestalt fallen. In Wirklichkeit vertritt Johannes
Scotus einen radikalen Platonismus, der sich manchmal einer pantheistischen
Sicht anzunähern scheint, auch wenn seine persönlichen, subjektiven Absichten
immer rechtgläubig waren. Von Johannes Scotus Eriugena sind uns einige Werke
überliefert, unter denen vor allem die Abhandlung „De Divisione Naturae“ und
die „Ausführungen über ,De caelesti hierarchia‘ des
heiligen Dionysius“ verdienen, in Erinnerung gerufen zu werden. Er entwickelt
dort anregende theologische und geistliche Überlegungen, die auch die
zeitgenössischen Theologen zu interessanten Vertiefungen anregen könnten. Ich
beziehe mich etwa auf das, was er über die Pflicht schreibt, ein genaues
Unterscheidungsvermögen hinsichtlich dessen zu entwickeln, was als „auctoritas
vera“ präsentiert wird, oder über das Bemühen, so lange nach der Wahrheit zu
suchen, bis man sie in gewisser Weise in der schweigenden Anbetung Gottes
erfährt.
Unser Autor sagt: „Salus nostra ex fide inchoat: unser Heil
beginnt mit dem Glauben“. Wir können also nicht von Gott sprechen, indem wir
von dem ausgehen, was wir uns ausdenken, sondern wir müssen von dem ausgehen,
was Gott in der Heiligen Schrift von sich selbst sagt. Da Gott jedoch nur die
Wahrheit sagt, ist Scotus Eriugena davon überzeugt, dass Autorität und Vernunft
niemals in Widerspruch zueinander geraten können; er ist überzeugt, dass die
wahre Religion und die wahre Philosophie übereinstimmen. In dieser Perspektive
schreibt er: „Welche Art von Autorität auch immer von der wahren Vernunft nicht
bestätigt wird, muss als schwach angesehen werden... Es handelt sich nur dann
um wahre Autorität, wenn sie mit der Wahrheit übereinstimmt, die kraft der
Vernunft entdeckt wurde, selbst wenn es sich um eine Autorität handeln sollte,
die von den heiligen Vätern zum Nutzen der Nachwelt empfohlen und übermittelt
wurde“ (I, PL 122, col 513BC). Infolgedessen mahnt er: „Keine Autorität soll
dich einschüchtern oder dich von dem ablenken, was du durch die Überzeugung
verstehst, die du aufgrund einer rechten vernünftigen Betrachtung gewonnen
hast. Denn wirkliche Autorität widerspricht niemals der rechten Vernunft, noch
kann letztere jemals wahrer Autorität widersprechen.
Das eine wie das andere gehen ohne jeden Zweifel aus derselben Quelle hervor:
der göttlichen Weisheit“ (I, PL 122, col 511B). Wir sehen, dass hier mutig der
Wert der Vernunft behauptet wird, begründet auf der Gewissheit, dass wahre
Autorität vernünftig ist, weil Gott die schöpferische Vernunft ist.
Die Schrift selbst entzieht sich nach Eriugena nicht der
Notwendigkeit, dass man sich ihr unter Verwendung desselben
Unterscheidungskriteriums nähert. Die Schrift – so behauptet der irische
Theologe, indem er eine Überlegung wieder aufnimmt, die sich bereits bei
Johannes Chrysostomus findet – wäre, obwohl sie von Gott kommt, nicht
erforderlich gewesen, wenn der Mensch nicht gesündigt hätte. Man muss daraus
also schließen, dass die Schrift dem Menschen von Gott mit einer pädagogischen
Absicht und aus Entgegenkommen geschenkt wurde, damit er sich an alles das
erinnern könne, was ihm vom Augenblick seiner Schöpfung als „Abbild und
Gleichnis Gottes“ (vgl. Gen 1, 26) an ins Herz eingeprägt worden war und was
der Sündenfall ihn hatte vergessen lassen. Eriugena schreibt in seinen
„Expositiones“: Der Mensch ist nicht für die Schrift geschaffen worden – derer
er nicht bedurft hätte, wenn er nicht gesündigt hätte –, sondern vielmehr ist
die Schrift – durchwoben von der Lehre und von Symbolen – dem Menschen
geschenkt worden. Dank ihrer kann unsere vernünftige Natur in die Geheimnisse
der wirklichen reinen Gottesbetrachtung eingeführt werden“ (II, PL 122, col
146C). Das Wort der Heiligen Schrift läutert unseren ein wenig blinden Verstand
und hilft uns, zur Erinnerung dessen zurückzukehren, was wir – als Abbild
Gottes – in unserem Herzen tragen und was leider durch die Sünde verwundet
worden ist.
Hieraus ergeben sich einige hermeneutische Konsequenzen über die
Art und Weise der Schriftinterpretation, die auch heute den richtigen Weg für
eine korrekte Lektüre der Heiligen Schrift aufzeigen können. Es geht in der Tat
darum, den verborgenen Sinn in den heiligen Texten zu entdecken, und das setzt
eine besondere innere Übung voraus, dank derer sich die Vernunft dem sicheren
Weg zur Wahrheit öffnet. Diese Übung besteht darin, eine ständige Bereitschaft
zur Bekehrung auszubilden. Um zu einer tiefen Einsicht in den Text zu gelangen,
ist es notwendig, gleichzeitig in der Bekehrung des Herzens und in der
begrifflichen Analyse des biblischen Abschnitts fortzuschreiten, gleich ob er
kosmischer, historischer oder lehrmäßiger Art ist. Und tatsächlich kann man nur
durch eine ständige Läuterung sowohl des Herzens als auch des Verstandes zum
richtigen Verständnis gelangen.
Dieser schwierige, anspruchsvolle und mitreißende Weg, der aus
ständigen Errungenschaften und Relativierungen des menschlichen Wissens
besteht, führt das vernunftbegabte Geschöpf bis an die Schwelle des göttlichen
Geheimnisses, wo alle Kenntnisse es die eigene Schwäche und Unfähigkeit
erkennen lassen und es daher mit der einfachen freien und süßen Kraft der
Wahrheit dazu zwingen, immer über alles das hinauszugehen, was beständig
erworben wird. Das betende und schweigende Erkennen des Geheimnisses, das in
der vereinenden Gemeinschaft mündet, erweist sich daher als der einzige Weg
einer Beziehung zur Wahrheit, die sowohl so tief innerlich wie möglich ist, als
auch die Andersheit auf das gewissenhafteste respektiert. Johannes Scotus – der
auch hier einen Begriff benutzt, welcher der christlichen Überlieferung
griechischer Sprache lieb war – hat diese Erfahrung, nach der wir streben, als
„theosis“ oder Vergöttlichung bezeichnet, und zwar mit so gewagten Aussagen,
dass es möglich war, ihn des nicht rechtgläubigen Pantheismus zu verdächtigen.
Man wird jedoch angesichts von Texten wie dem folgenden immer noch stark
bewegt, in dem er – auf die frühe Metapher des Eisenschmelzens zurückgreifend –
schreibt: „Wie also das ganze glühend gemachte Eisen so weit flüssig geworden
ist, dass dort nur noch Feuer zu sein scheint, und man dennoch die beiden
Substanzen noch voneinander unterscheiden kann, so muss man annehmen, dass nach
dem Ende dieser Welt die ganze Natur, sowohl die stoffliche als auch die nicht
stoffliche, nur Gott zeigt und dennoch auf solche Weise ganz bleibt, dass Gott
auf gewisse Weise begriffen werden kann, auch wenn er unbegreiflich bleibt, und
das Geschöpf selbst in unsagbarem Staunen in Gott verwandelt wird“ (V, PL 122,
col 451B).
In Wirklichkeit ist das ganze theologische Denken von Johannes
Scotus die offenkundigste Demonstration des Versuchs, das Sagbare über den
unsagbaren Gott auszudrücken, indem er sich einzig auf das Geheimnis des Wortes
stützt, das in Jesus von Nazareth Mensch geworden ist. Die vielen Metaphern,
die er verwendet, um diese unaussprechliche Wahrheit darzulegen, zeigen, wie
sehr er sich der absoluten Unangemessenheit der Worte bewusst ist, mit denen
wir über diese Dinge sprechen. Und doch bleiben der Zauber und jene Atmosphäre
wirklicher mystischer Erfahrung, die sich in seinen Texten manchmal mit Händen
greifen lassen. Zum Beweis dafür braucht man nur einen Abschnitt aus „De
divisione naturae“ zu zitieren, die auch die Seele von uns Gläubigen im
einundzwanzigsten Jahrhundert zutiefst berührt: „Nichts anderes wünsche ich“ –
so schreibt er –, „als die Freude der Wahrheit, die Christus ist, nichts meide
ich, als Sein Fehlen. Das wäre in der Tat als einziger Grund vollkommenen und
ewigen Leids anzusehen. Wenn du mir Christus nimmst, bleibt mir kein Gut mehr, und
nichts anderes fürchte ich als sein Fehlen. Die größte Qual eines vernünftigen
Geschöpfes ist, Ihn entbehren zu müssen und Ihm fern zu sein“ (V, PL 122, col
989a). Das sind Worte, die wir uns zu eigen machen können, indem wir sie in
einem Gebet an Denjenigen ausdrücken, nach dem auch unser Herz sich sehnt.