Papst Benedikt XVI.
Generalaudienz am 1.9.10
Hildegard von Bingen
(I)
Liebe Brüder und Schwestern!
Auch in jenen Jahrhunderten der Geschichte, die wir gewöhnlich
Mittelalter nennen, ragen verschiedene Frauengestalten ob der Heiligkeit ihres
Lebens und des Reichtums ihrer Lehre hervor. Heute möchte ich damit beginnen,
euch eine von ihnen vorzustellen: die heilige Hildegard von Bingen, die im
zwölften Jahrhundert in Deutschland gelebt hat. Sie wurde 1098 im Rheinland in
Bermersheim bei Alzey geboren und verstarb 1179 im Alter von 81 Jahren, dies
trotz der fortwährenden Gebrechlichkeit ihrer Gesundheit. Hildegard gehörte zu
einer adeligen und zahlreichen Familie und wurde von ihren Eltern ab ihrer
Geburt dem Dienst an Gott geweiht. Um eine angemessene menschliche und
christliche Bildung zu erhalten, wurde sie im Alter von acht Jahren der
Fürsorge der Magistra Jutta von Sponheim anvertraut, welche sich in eine Klause
beim Benediktinerkloster auf dem Disibodenberg zurückgezogen hatte. Es bildete
sich ein kleines Klausurkloster für Frauen, das der Regel des heiligen
Benedikts folgte. Hildegard empfing den Schleier von Bischof Otto von Bamberg,
und 1136, nach dem Tod von Mutter Jutta, welche die Oberin der Kommunität
geworden war, wählten sie ihre Mitschwestern zu deren Nachfolgerin. Sie kam
dieser Aufgabe nach, indem sie ihre Begabungen einer gebildeten Frau umsetzte,
die geistlich hochstehend und fähig war, mit Sachverstand den organisatorischen
Aspekten des Klausurlebens zu begegnen. Auch aufgrund der steigenden Zahl von
jungen Frauen, die an die Türen des Klosters klopften, gründete Hildegard
einige Jahre später eine weitere Kommunität in Bingen, die auf den heiligen
Rupert geweiht war, wo sie den Rest ihres Lebens verbrachte. Der Stil, mit dem
sie ihr Amt der Leitung ausübte, ist ein Beispiel für jede Ordensgemeinschaft:
Er erweckte ein heiliges Nachahmen im Tun des Guten, was so weit ging, wie aus
den Zeitzeugnissen erhellt, dass die Mutter und die Töchter wetteiferten, sich
wertzuschätzen und einander zu dienen.
Bereits in den Jahren, als sie Oberin des Klosters auf dem
Disibodenberg war, hatte Hildegard damit begonnen, die mystischen Visionen, die
sie seit einiger Zeit empfing, ihrem geistlichen Beistand, dem Mönch Volmar,
und ihrer Sekretärin Richardis von Stade, einer Mitschwester, der sie sehr
zugetan war, zu diktieren.
Wie dies stets im Leben von wahren Mystikern geschieht, wollte
sich auch Hildegard der Autorität von weisen Menschen unterstellen, um den
Ursprung ihrer Visionen zu unterscheiden, da sie fürchtete, dass diese das
Ergebnis von Illusionen seien und nicht von Gott stammten. Sie wandte sich daher
an die Person, die zu ihrer Zeit die größte Achtung in der Kirche genoss: an
den heiligen Bernhard von Clairvaux, von dem ich schon in einigen Katechesen
gesprochen habe. Dieser beruhigte und ermutigte Hildegard. Doch im Jahr 1147
wurde ihr eine weitere sehr wichtige Billigung zuteil. Papst Eugen III., der
der Synode von Trier vorstand, las einen von Hildegard diktierten Text, den ihm
Erzbischof Heinrich von Mainz vorgelegt hatte. Der Papst autorisierte die
Mystikerin, ihre Visionen niederzuschreiben und in der Öffentlichkeit zu
sprechen. Von jenem Augenblick an wuchs Hildegards geistliches Ansehen immer
mehr, so sehr, dass die Zeitgenossen ihr den Titel „Deutsche Prophetin“
zusprachen.
Und das, liebe Freunde, ist das Siegel einer echten Erfahrung des
Heiligen Geistes, Quelle eines jeden Charismas: Der Mensch, der Hüter
übernatürlicher Gaben ist, rühmt sich dessen nie, er stellt sie nicht zur Schau
und legt vor allem völligen Gehorsam gegenüber der kirchlichen Autorität an den
Tag. Jede vom Heiligen Geist ausgeschüttete Gabe ist nämlich für die Errichtung
der Kirche bestimmt, und die Kirche anerkennt deren Authentizität durch ihre
Hirten.
Am kommenden Mittwoch werde ich erneut über diese große Frau und
„Prophetin“ sprechen, die mit großer Aktualität auch heute zu uns spricht, mit
ihrer mutigen Fähigkeit, die Zeichen der Zeit zu unterscheiden, mit ihrer Liebe
zur Schöpfung, ihrer Medizin, ihrer Dichtung, ihrer Musik, die man heute
rekonstruiert, mit ihrer Liebe zu Christus und zu seiner Kirche, die auch in jener
Zeit litt, die auch in jener Zeit von den Sünden der Priester und Laien
verletzt und umso mehr als Leib Christi geliebt wurde.
So spricht die heilige Hildegard zu uns; wir werden uns darüber
noch am kommenden Mittwoch auseinandersetzen. Danke für eure Aufmerksamkeit.