Papst Benedikt XVI.: Ansprache während der Generalaudienz am 12.4.08:

Benedikt von Nursia

Liebe Brüder und Schwestern!

Heute möchte ich über den heiligen Benedikt sprechen, den Begründer des abendländischen Mönchtums sowie auch den Schutzpatron meines Pontifikats. Ich beginne mit einer Aussage des heiligen Gregor des Großen, der über den heiligen Benedikt schreibt: „Nicht nur die zahlreichen Wunder des Gottesmannes wurden in der Welt berühmt, sondern auch das Wort seiner Lehre strahlte hell auf“ (Dial. II, 36). Diese Worte hat der große Papst im Jahr 592 geschrieben; der heilige Mönch war kaum fünfzig Jahre tot und im Gedächtnis der Menschen sowie vor allem in dem blühenden Orden, der von ihm gegründet worden war, noch lebendig. Der heilige Benedikt von Nursia hat mit seinem Leben und mit seinem Werk einen grundlegenden Einfluss auf die Entwicklung der europäischen Zivilisation und Kultur ausgeübt. Die wichtigste Quelle über ihn ist das zweite Buch der „Dialoge“ des heiligen Gregor des Großen. Es handelt sich nicht um eine Biographie im klassischen Sinne. Den Vorstellungen seiner Zeit entsprechend, wollte Gregor am Beispiel eines konkreten Menschen – des heiligen Benedikt eben – den Aufstieg zu den Gipfeln der Kontemplation erläutern, die derjenige erreichen kann, der sich Gott überlässt. Er zeigt uns also ein Modell für das menschliche Leben als Aufstieg zum Gipfel der Vollkommenheit. Der heilige Gregor der Große berichtet in diesem Buch der Dialoge auch über viele Wunder, die der Heilige gewirkt hat, und auch hier will er nicht einfach nur etwas merkwürdiges erzählen, sondern zeigen, wie Gott mahnend, helfend, aber auch strafend in die konkrete Lebenssituation des Menschen eingreift. Er will zeigen, dass Gott keine Hypothese ist, die weit entfernt an den Ursprung der Welt gestellt wird, sondern im Leben des Menschen, jedes Menschen, gegenwärtig ist.

Diese Sichtweise des „Biographen“ erklärt sich auch im Licht der allgemeinen Situation seiner Zeit: um die Wende vom fünften zum sechsten Jahrhundert wurde die Welt von einer schrecklichen Krise der Werte und der Institutionen erschüttert, die durch den Zusammenbruch des Römischen Reiches, durch das Eindringen neuer Völker und den Verfall der Sitten hervorgerufen wurde. Indem er den heiligen Benedikt als „leuchtenden Stern“ darstellte, wollte Gregor in dieser schrecklichen Lage gerade hier in der Stadt Rom die Möglichkeit aufzeigen, dieser „dunklen Nacht der Geschichte“ (vgl. Johannes Paul II, Insegnamenti, II/1, 1979, S. 1158) zu entkommen. Tatsächlich haben sich das Werk des Heiligen und vor allem seine „Regel“ als wirklicher geistiger Sauerteig erwiesen, der im Laufe der Jahrhunderte weit über die Grenzen seiner Heimat und seiner Zeit hinaus das Antlitz Europas verwandelt hat, indem er nach dem Zerfall der politischen Einheit, die das Römische Reich geschaffen hatte, eine neue geistige und kulturelle Einheit erzeugte – die Einheit des christlichen Glaubens, der von allen Völkern des Kontinents geteilt wurde. Auf diese Weise ist das entstanden, was wir „Europa“ nennen.

Vom ausschweifenden Leben der Kommilitonen abgeschreckt

Die Geburt des heiligen Benedikt wird um das Jahr 480 datiert. Er stammte, wie der heilige Gregor sagt, „ex provincia Nursiae“ – aus dem Gebiet um Nursia [Norcia in Umbrien A.d.Ü.]. Seine wohlhabenden Eltern schickten ihn zur Ausbildung nach Rom. Er blieb jedoch nicht lange in der Ewigen Stadt. Als völlig glaubwürdige Erklärung weist Gregor auf die Tatsache hin, dass sich der junge Benedikt von der ausschweifenden Lebensweise zahlreicher seiner Studienkollegen abgestoßen fühlte und nicht denselben Fehlern verfallen wollte. Gott allein wollte er gefallen; „soli Deo placere desiderans“ (II Dial., Prol 1). So hat Benedikt noch vor Abschluss seiner Studien Rom verlassen und sich in die Einsamkeit der Berge östlich von Rom zurückgezogen. Nach einem ersten Aufenthalt in der Ortschaft Effide (heute: Affile), wo er sich eine Zeitlang einer „religiösen Gemeinschaft“ von Mönchen anschloss, lebte er als Einsiedler im nicht weit entfernten Subiaco. Dort lebte er drei Jahre lang vollkommen allein in einer Höhle, die vom Beginn des frühen Mittelalters an das „Herz“ eines Benediktinerklosters mit dem Namen „Sacro Speco“ bildete. Die Zeit in Subiaco, eine Zeit der Einsamkeit mit Gott, war für Benedikt eine Zeit des Reifens. Hier musste er die drei grundlegenden Versuchungen jedes Menschen ertragen und überwinden: die Versuchung der Selbstbestätigung und des Wunsches, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, die Versuchung der Sinne und schließlich die Versuchung von Zorn und Rache. Benedikt war in der Tat davon überzeugt, dass er erst nach der Überwindung dieser drei Versuchungen den anderen ein hilfreiches Wort in ihrer notvollen Lage geben könne. So war er, nachdem er Ruhe in seiner Seele gestiftet hatte, in der Lage, die Impulse seines „Ich“ vollkommen zu kontrollieren und auf diese Weise um sich herum Frieden zu schaffen. Erst dann beschloss er, in der Nähe von Subiaco im Tal des Flusses Aniene seine ersten Klöster zu gründen.

Im Jahr 529 verließ Benedikt Subiaco, um sich in Montecassino niederzulassen. Von einigen wurde dieser Umzug als Flucht vor den Intrigen eines neidischen örtlichen Geistlichen gedeutet. Doch dieser Erklärungsversuch hat sich als wenig überzeugend erwiesen, da der plötzliche Tod dieses Geistlichen Benedikt nicht zur Rückkehr bewegt hat (Dial. 8). In Wirklichkeit hatte diese Entscheidung sich ihm aufgedrängt, da eine neue Phase der inneren Reifung und der monastischen Erfahrung für ihn begonnen hatte. Nach Gregor dem Großen kommt dem Aufbruch aus dem abseits gelegenen Tal des Aniene nach Montecassino – eine Anhöhe, welche die weite Ebene, in der sie liegt, beherrscht und von weitem sichtbar ist – eine symbolische Bedeutung zu: das Mönchsleben in der Verborgenheit hat seine Berechtigung, doch ein Kloster hat auch einen öffentlichen Zweck im Leben der Kirche und der Gesellschaft und muss den Glauben als Kraft des Lebens sichtbar machen. Als Benedikt am 21. März 547 sein irdisches Lebens beendete, hat er mit seiner „Regel“ und mit der von ihm gegründeten benediktinischen Familie ein Gut hinterlassen, das in den vergangenen Jahrhunderten Frucht in aller Welt getragen hat und auch heute noch trägt.

Im gesamten zweiten Buch der „Dialoge“ zeigt Gregor uns, dass das Leben des heiligen Benedikt in eine Atmosphäre des Betens eingetaucht war, des tragenden Fundaments seines Daseins. Ohne das Gebet gibt es keine Gotteserfahrung. Doch die Spiritualität Benedikts war keine wirklichkeitsfremde Innerlichkeit. In der Unruhe und Verwirrung seines Zeitalters lebte er unter dem Blick Gottes, und gerade so hat er nie die Pflichten des täglichen Lebens und den Menschen mit seinen konkreten Bedürfnissen aus den Augen verloren. Indem er Gott sah, hat er die Realität des Menschen und seinen Auftrag verstanden. In seiner „Regel“ bezeichnet er das Klosterleben als „eine Schule für den Dienst des Herrn“ (Prol. 45) und fordert von seinen Mönchen: „Dem Gottesdienst [dem Stundengebet] soll nichts vorgezogen werden“ (43, 3). Er unterstreicht jedoch, dass das Gebet in erster Linie ein Akt des Hörens ist (Prol. 9–11), der dann in konkretes Handeln umgesetzt werden muss. „Der Herr erwartet, dass wir jeden Tag auf seine göttlichen Mahnungen mit unserem Tun antworten“ (Prol. 35), erklärt er. So wird das Leben des Mönchs eine fruchtbare Symbiose von Aktion und Kontemplation, „damit in allem Gott verherrlicht werde“ (57, 9). Im Gegensatz zu einer heutzutage häufig gepriesenen, bequemen und egozentrischen Selbstverwirklichung, ist es die vorrangige und unverzichtbare Aufgabe eines Schülers des heiligen Benedikt, wirklich Gott zu suchen (58, 7), auf dem Weg, den Christus in seiner Demut und in seinem Gehorsam vorgezeichnet hat (5, 13). Der Liebe zu Christus soll er nichts vorziehen (4, 21; 72, 11) und gerade so, im Dienst für den anderen, wird er zu einem Mann des Dienens und des Friedens. In der Übung des Gehorsams, der mit einem von der Liebe beseelten Glauben verwirklicht wird (5, 2), erwirbt der Mönch die Demut (5, 1), der die „Regel“ ein ganzes Kapitel (7) widmet. Auf diese Weise wird der Mensch Christus immer ähnlicher und gelangt zur wahren Selbstverwirklichung als Geschöpf nach dem Bild und Gleichnis Gottes.

Zuhören können und daraus lernen

Dem Gehorsam des Schülers muss die Klugheit des Abtes entsprechen, der im Kloster „die Stelle Christi“ vertritt (2, 2; 63, 13). Seine Gestalt, die vor allem im zweiten Kapitel der „Regel“ mit einem Bild geistiger Schönheit und anspruchsvoller Aufgaben umrissen wird, kann als ein Selbstporträt Benedikts angesehen werden, denn, wie Gregor der Große schreibt: „Der heilige Mann konnte gar nicht anders lehren, als er lebte“ (Dial. II, 36). Der Abt muss gleichzeitig ein gütiger Vater und ein strenger Meister sein (2, 24), ein wahrer Erzieher. Unbeugsam gegen Fehler ist er doch vor allem dazu aufgerufen, die Liebe des Guten Hirten nachzuahmen (27, 8) und „mehr zu helfen, als zu herrschen“ (64, 8), „alles Gute und Heilige mehr durch sein Leben als durch sein Reden sichtbar zu machen“ und „die Weisungen Gottes durch sein Beispiel zu veranschaulichen“ (2, 12). Um verantwortlich entscheiden zu können, soll auch der Abt „den Rat der Brüder anhören“, weil „der Herr oft einem Jüngeren offenbart, was das Bessere ist“ (3, 3). Eine solche Bestimmung verleiht dieser „Regel“, die vor nahezu fünfzehn Jahrhunderten geschrieben wurde, überraschende Modernität! Ein Mann mit öffentlicher Verantwortung muss – auch in kleinen Bereichen – immer auch ein Mann sein, der zuhören und aus dem, was er hört, lernen kann.

Benedikt bezeichnet die „Regel“ als „einfach“ und als „Anfang“ (73, 8); in Wirklichkeit bietet sie jedoch nicht nur den Ordensmännern, sondern auch allen, die auf ihrem Weg zu Gott einen Leitfaden suchen, nützliche Hinweise. Aufgrund ihrer Ausgewogenheit, ihrer Menschlichkeit und ihrer nüchternen Unterscheidung zwischen dem, was für das geistige Leben wesentlich und dem was zweitrangig ist, hat sie ihre erleuchtende Kraft bis heute bewahren können. Paul VI., der den heiligen Benedikt am 24. Oktober 1964 zum Patron Europas erklärt hat, wollte das wunderbare Werk anerkennen, das der Heilige durch die „Regel“ für die Bildung der europäischen Zivilisation und Kultur vollbracht hat. Heute ist Europa – nach einem Jahrhundert, das tief unter zwei Weltkriegen gelitten hat und nach dem Zusammenbruch der großen Ideologien, die sich als tragische Utopien erwiesen haben – auf der Suche nach der eigenen Identität. Um eine neue und dauerhafte Einheit zu schaffen, sind die politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Instrumente sicherlich von Bedeutung, doch es ist auch notwendig, eine ethische und spirituelle Erneuerung herbeizuführen, die aus den christlichen Wurzeln des Kontinents schöpft – anders kann Europa nicht wieder aufgebaut werden. Ohne diesen Lebenssaft bleibt der Mensch der Gefahr ausgesetzt, der alten Versuchung zu erliegen, sich selbst erlösen zu wollen – eine Utopie, die im Europa des zwanzigsten Jahrhunderts auf unterschiedliche Weise, wie Papst Johannes Paul II. erklärt hat, zu „einem beispiellosen Rückschritt in der gequälten Geschichte der Menschheit“ (Insegnamenti, XIII/1, 1990, S. 58) geführt hat. Auf der Suche nach dem wahren Fortschritt wollen auch wir heute die „Regel“ des heiligen Benedikt wie ein Licht auf unserem Weg betrachten. Der große Ordensmann bleibt ein wahrer Lehrmeister, in dessen Schule wir die Kunst lernen können, den wahren Humanismus zu leben.

 

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