Generalaudienz am 4.
Oktober 2006
Bartholomäus
Liebe Brüder und Schwestern!
Über Bartholomäus haben wir keine Angaben von Bedeutung; sein Name
kommt immer und nur innerhalb der oben erwähnten Listen der Zwölf vor und
findet sich also niemals im Mittelpunkt irgendeiner Erzählung. Der
Überlieferung nach wird er jedoch mit Natanaël gleichgesetzt: ein Name der
"Gott hat gegeben" bedeutet. Dieser Natanaël kam aus Kana (vgl. Joh
21,2), und es ist daher möglich, dass er Zeuge des großen "Zeichens"
wurde, das Jesus an diesem Ort getan hat (vgl. Joh 2,1-11). Die Gleichsetzung
der beiden Personen ergibt sich wahrscheinlich aus der Tatsache, dass dieser
Natanaël in der Berufungsszene, die das Johannesevangelium erzählt, neben
Philippus gestellt wird, also an den Platz, den Bartholomäus in den
Apostellisten einnimmt, die in den anderen Evangelien aufgeführt werden. Diesem
Natanaël hatte Philippus mitgeteilt, er habe "den gefunden, über den Mose
im Gesetz und auch die Propheten geschrieben haben: Jesus aus Nazaret, den Sohn
Josefs" (Joh 1,45). Wie wir wissen, hielt Natanaël dem ein ziemlich
schwerwiegendes Vorurteil entgegen: "Aus Nazaret? Kann von dort etwas
Gutes kommen?" (Joh 1,46a). Diese Art von Widerspruch ist, auf seine Art,
interessant für uns. Sie lässt uns sehen, dass der Messias der jüdischen
Erwartung gemäß nicht aus einem so einfachen Ort wie Nazaret kommen konnte
(siehe auch Joh 7,42). Gleichzeitig hebt sie jedoch die Freiheit Gottes hervor,
die unsere Erwartungen überrascht, indem er sich gerade dort finden lässt, wo
wir ihn nicht erwarten würden. Zudem wissen wir, dass Jesus in Wirklichkeit
nicht ausschließlich "aus Nazaret" kam, sondern dass er in Bethlehem
geboren war (vgl. Mt 2,1; Lk 2,4). Der Einwand Natanaëls besaß daher keine
Gültigkeit, da er – wie das häufig geschieht – auf einer unvollständigen
Information beruhte.
Diese Natanaël-Geschichte ruft eine weitere Überlegung hervor: in
unserer Beziehung zu Jesus dürfen wir uns nicht nur mit Worten zufrieden geben.
Philippus richtet in seiner Antwort eine bedeutungsvolle Einladung an Natanaël:
"Komm und sieh!" (Joh 1,46b). Unsere Kenntnis Jesu bedarf vor allem
der lebendigen Erfahrung: das Zeugnis anderer ist sicher wichtig, da
normalerweise unser ganzes christliches Leben damit anfängt, dass uns die
Verkündigung einer oder mehrerer Zeugen erreicht. Doch dann müssen wir selbst
uns persönlich in eine enge und tiefe Beziehung zu Jesus einlassen; auf
ähnliche Weise wollten die Samariter, nachdem sie das Zeugnis von der Frau aus
ihrem Ort gehört hatten, die Jesus beim Jakobsbrunnen getroffen hatte, direkt
mit Ihm sprechen, und nach diesem Gespräch sagten sie zu der Frau: "Nicht
mehr aufgrund deiner Aussage glauben wir, sondern weil wir ihn selbst gehört
haben und nun wissen: Er ist wirklich der Retter der Welt" (Joh 4,42).
Wenn wir zu der Berufungsszene zurückkehren, so berichtet uns der
Evangelist, dass Jesus, als er Natanaël auf sich zukommen sieht, ausruft:
"Da kommt ein echter Israelit, ein Mann ohne Falschheit" (Joh 1,47).
Es handelt sich um ein Lob, das an den Text eines Psalms erinnert: "Wohl dem
Menschen... dessen Herz keine Falschheit kennt" (Ps 32,2) und das die
Neugier Natanaëls hervorruft, der erstaunt antwortet: "Woher kennst du
mich?" (Joh 1,48a). Die Antwort Jesu ist nicht unmittelbar verständlich.
Er sagt: "Schon bevor dich Philippus rief, habe ich dich unter dem
Feigenbaum gesehen" (Joh 1,48b). Bis heute ist es schwierig, den genauen
Sinn dieser letzten Worte zu verstehen. Nach dem, was die Fachleute sagen, ist
es möglich, dass hier, da der Feigenbaum manchmal als Baum erwähnt wird, unter
dem die Gesetzeslehrer saßen, um die Bibel zu lesen und zu lehren, darauf
angespielt wird, dass Natanaël im Moment seiner Berufung einer Beschäftigung
dieser Art nachgegangen ist.
Das, was in der Erzählung des Johannes jedoch vor allem zählt, ist
das Glaubensbekenntnis, das Natanaël schließlich auf klare Weise ablegt:
"Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König von Israel" (Joh
1,49). Obgleich hier nicht die Intensität des Bekenntnisses von Thomas erreicht
wird, mit dem das Johannesevangelium abschließt: "Mein Herr und mein
Gott!" (Joh 20,28), hat das Bekenntnis des Natanaël doch die Aufgabe, das
gesamte Vierte Evangelium zu eröffnen. In ihm wird ein erster wichtiger Schritt
auf dem Weg, sich Jesus anzuschließen, aufgeführt. Die Worte Natanaëls
beleuchten einen doppelten, komplementären Aspekt der Identität Jesu: Er wird
sowohl in seiner besonderen Beziehung zu Gott Vater erkannt, dessen
eingeborener Sohn er ist, als auch in seiner Beziehung zum Volk Israel, zu
dessen König er erklärt wird – die Eigenschaft des erwarteten Messias also. Wir
dürfen niemals weder die eine noch die andere dieser beiden Komponenten aus den
Augen verlieren, denn wenn wir nur die himmlische Dimension Jesu verkünden,
laufen wir Gefahr, ihn zu einem überirdischen und entrückten Wesen zu machen,
und wenn wir im Gegenteil nur seine konkrete Stellung in der Geschichte
anerkennen, führt das auf eine Vernachlässigung seiner göttlichen Dimension
hinaus, die ihn ja gerade kennzeichnet.
Über die spätere apostolische Tätigkeit des Bartholomäus-Natanaël
haben wir keine genauen Informationen. Einem Hinweis zufolge, den der
Geschichtsschreiber Eusebius im vierten Jahrhundert überliefert hat, hätte ein
gewisser Panteno in Indien Zeichen der Präsenz des Bartholomäus gefunden (vgl.
Hist. eccl. V,10,3). In der späteren Überlieferung, vom Mittelalter an, setzte
sich dann die Erzählung durch, er sei gehäutet wurden, die sehr verbreitet war.
Man denke an die ganz bekannte Szene auf dem Jüngsten Gericht in der
Sixtinischen Kapelle, in der Michelangelo den heiligen Bartholomäus gemalt hat,
der in der linken Hand seine eigene Haut hält, auf welcher der Künstler sein
Selbstportrait hinterlassen hat.
Die Reliquien des heiligen Bartholomäus werden hier in Rom in der
ihm geweihten Kirche auf der Tiberinsel verehrt, wohin der deutsche Kaiser Otto
III. sie im Jahr 983 gebracht haben soll. Abschließend können wir sagen, dass
die Gestalt des heiligen Bartholomäus trotz der dürftigen Informationen, die
über ihn vorliegen, vor uns steht, um uns zu sagen, dass das Festhalten an Jesus
auch ohne das Vollbringen außerordentlicher Taten gelebt und bezeugt werden
kann. Außergewöhnlich ist und bleibt Jesus selbst, und wir sind alle
aufgerufen, ihm unser Leben und unseren Tod zu weihen.