Generalaudienz am 14.
Juni 2006
Andreas
Liebe Brüder und Schwestern!
Die Blutsbande zwischen Petrus und Andreas sowie ihre gemeinsame
Berufung durch Jesus gehen aus den Evangelien deutlich hervor. Dort ist zu
lesen: »Als Jesus am See von Galiläa entlangging, sah er zwei Brüder, Simon,
genannt Petrus, und seinen Bruder Andreas; sie warfen gerade ihr Netz in den
See, denn sie waren Fischer. Da sagte er zu ihnen: Kommt her, folgt mir nach!
Ich werde euch zu Menschenfischern machen« (Mt 4,18–19; vgl. Mk 1,16–17). Dem
Vierten Evangelium entnehmen wir ein weiteres wichtiges Detail: Zuerst war
Andreas ein Jünger Johannes des Täufers gewesen; das zeigt uns, daß er ein
Suchender war, ein Mann, der die Hoffnung Israels teilte und der das Wort des
Herrn, die Wirklichkeit des gegenwärtigen Herrn näher kennenlernen wollte. Er
war wirklich ein Mann des Glaubens und der Hoffnung; und eines Tages hörte er,
daß Johannes der Täufer Jesus als »das Lamm Gottes« bezeichnete (Joh 1,36); da
beeilte er sich und folgte zusammen mit einem anderen Jünger, dessen Name nicht
erwähnt wird, Jesus, demjenigen, den Johannes »Lamm Gottes« nannte. Der
Evangelist berichtet: Sie »sahen, wo er wohnte, und blieben jenen Tag bei ihm«
(Joh 1,37–39). Andreas erlebte also kostbare Augenblicke enger Vertrautheit mit
Jesus. Die Erzählung geht weiter mit einer bedeutsamen Anmerkung: »Andreas, der
Bruder des Simon Petrus, war einer der beiden, die das Wort des Johannes gehört
hatten und Jesus gefolgt waren. Dieser traf zuerst seinen Bruder Simon und
sagte zu ihm: Wir haben den Messias gefunden. Messias heißt übersetzt: der
Gesalbte (Christus). Er führte ihn zu Jesus« (Joh 1,40–42) und bewies damit
sofort einen außergewöhnlichen apostolischen Geist. Andreas war also der erste
der Apostel, der berufen wurde, Jesus nachzufolgen. Aus diesem Grund ehrt ihn
die Liturgie der byzantinischen Kirche mit dem Beinamen Protóklitos, was eben
»der Erstberufene« bedeutet. Und sicher ist, daß sich auch wegen der
brüderlichen Beziehung zwischen Petrus und Andreas die Kirche von Rom und die
Kirche von Konstantinopel in besonderer Weise untereinander als
Schwesterkirchen fühlen. Um diese Beziehung hervorzuheben, hat mein Vorgänger
Papst Paul VI. im Jahre 1964 die berühmte Reliquie des hl. Andreas, die bis
dahin in der Vatikanischen Basilika aufbewahrt worden war, dem orthodoxen
Metropoliten der Stadt Patras in Griechenland zurückgegeben, wo der
Überlieferung nach der Apostel gekreuzigt wurde.
Darüber hinaus erwähnen die Überlieferungen der Evangelien den
Namen des Andreas besonders im Zusammenhang mit drei weiteren Ereignissen,
durch die wir diesen Mann noch ein wenig besser kennenlernen können. Das erste
ist die Brotvermehrung in Galiläa. In jener schwierigen Lage war es Andreas,
der Jesus auf die Anwesenheit eines kleinen Jungen aufmerksam machte, der fünf
Gerstenbrote und zwei Fische bei sich hatte: viel zu wenig – so stellte er
heraus – für all die Menschen, die an jenem Ort zusammengekommen waren (vgl.
Joh 6,8–9). Der Realismus des Andreas verdient dabei hervorgehoben zu werden:
Er sah den kleinen Jungen – er hatte sich also schon gesagt: »Doch was ist das
für so viele!« (ebd.) – und merkte, daß dessen geringe Vorräte nicht
ausreichten. Jesus jedoch vermochte es zu bewirken, daß sie ausreichten für die
Menschenmenge, die gekommen war, um ihm zuzuhören. Das zweite Ereignis geschah
in Jerusalem. Als sie aus der Stadt herausgingen, machte einer der Jünger Jesus
auf den Anblick der gewaltigen Mauern aufmerksam, die den Tempel trugen. Die
Antwort des Meisters war überraschend: Er sagte, daß von jenen Mauern kein
Stein auf dem andern bleiben würde. Da befragte ihn Andreas, zusammen mit
Petrus, Jakobus und Johannes: »Sag uns, wann wird das geschehen, und an welchem
Zeichen wird man erkennen, daß das Ende von all dem bevorsteht?« (Mk 13,1–4).
Als Antwort auf diese Frage hielt Jesus eine wichtige Rede über die Zerstörung
Jerusalems und über das Ende der Welt und forderte seine Jünger auf, die
Zeichen der Zeit aufmerksam zu lesen und immer wachsam zu bleiben. Aus dieser
Begebenheit können wir schließen, daß wir keine Angst haben brauchen, Jesus
Fragen zu stellen, daß wir jedoch gleichzeitig bereit sein müssen, die Lehren,
die er uns erteilt, anzunehmen, auch die überraschenden und schwierigen.
In den Evangelien wird schließlich noch von einer dritten
Initiative des Andreas berichtet. Der Schauplatz ist wiederum Jerusalem, kurz
vor der Passion. Zum Paschafest waren – so berichtet Johannes – auch einige
Griechen, wahrscheinlich Proselyten oder Gottesfürchtige, in die Heilige Stadt
gekommen, um am Paschafest den Gott Israels anzubeten. Andreas und Philippus,
die beiden Apostel mit griechischen Namen, fungieren als Dolmetscher und
Vermittler dieser kleinen Gruppe von Griechen bei Jesus. Die Antwort des Herrn
auf ihre Frage erscheint – wie so oft im Johannesevangelium – rätselhaft, aber gerade
so erweist sich ihr Bedeutungsreichtum. Jesus sagt den beiden Jüngern und durch
sie der griechischen Welt: »Die Stunde ist gekommen, daß der Menschensohn
verherrlicht wird. Amen, amen, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die
Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche
Frucht« (Joh 12,23–24). Was bedeuten diese Worte in diesem Zusammenhang? Jesus
will sagen: Ja, die Begegnung zwischen mir und den Griechen wird stattfinden,
aber nicht als einfaches kurzes Gespräch zwischen mir und einigen Menschen, die
vor allem von der Neugier getrieben sind. Mit meinem Tod, der mit dem Fallen
eines Weizenkorns in die Erde vergleichbar ist, wird die Stunde meiner
Verherrlichung kommen. Von meinem Tod am Kreuz wird große Fruchtbarkeit
ausgehen: Das »tote Weizenkorn« – Symbol für mich als den Gekreuzigten – wird
in der Auferstehung zum Brot des Lebens für die Welt werden; es wird Licht für
die Völker und Kulturen sein. Ja, die Begegnung mit der griechischen Seele, mit
der griechischen Welt wird in jener Tiefe verwirklicht werden, auf die die
Geschichte vom Weizenkorn anspielt, das die Kräfte der Erde und des Himmels
anzieht und zu Brot wird. Mit anderen Worten, Jesus prophezeit die Kirche der
Griechen, die Kirche der Heiden, die Kirche der Welt als Frucht seines Pascha.
Sehr alte Überlieferungen sehen in Andreas, der den Griechen
dieses Wort übermittelt hat, nicht nur den Dolmetscher einiger Griechen bei der
eben erwähnten Begegnung mit Jesus, sondern sie betrachten ihn als Apostel der
Griechen in den Jahren, die auf die Pfingstereignisse folgten; sie lassen uns
wissen, daß er für den Rest seines Lebens Verkünder und Sprachrohr Jesu für die
griechische Welt war. Petrus, sein Bruder, gelangte von Jerusalem über
Antiochia nach Rom, um hier seine universale Sendung auszuüben; Andreas
hingegen war der Apostel der griechischen Welt: So erscheinen sie im Leben und
im Tod als wirkliche Brüder – und das kommt symbolisch zum Ausdruck in der
besonderen Beziehung der Bischofssitze von Rom und Konstantinopel, die wirklich
Schwesterkirchen sind. Eine spätere Überlieferung berichtet, wie schon
angedeutet, vom Tod des Andreas in Patras, wo auch er durch die Kreuzigung
hingerichtet wurde. In jener großen Stunde jedoch bat er, ebenso wie es sein Bruder
Petrus tat, darum, an ein Kreuz gehängt zu werden, das sich vom Kreuz Jesu
unterschied. In seinem Fall handelte es sich um ein x-förmiges Kreuz, das heißt
ein Kreuz mit zwei diagonal verlaufenden Balken, das deshalb auch
»Andreaskreuz« genannt wurde. Einem antiken Bericht vom Anfang des 6.
Jahrhunderts zufolge, der den Titel Passion des Andreas trägt, soll der Apostel
damals gesagt haben: »Gegrüßet seist du, o Kreuz, das du durch den Leib Christi
geweiht und von seinen Gliedern wie mit kostbaren Perlen geschmückt wurdest.
Bevor der Herr dich bestieg, hattest du irdische Angst eingeflößt. Jetzt
hingegen bist du mit himmlischer Liebe ausgestattet und wirst deshalb wie eine
Gabe empfangen. Die Gläubigen wissen von dir, welch große Freude du besitzt,
wie viele Geschenke du bereithältst. Nun komme ich sicher und voller Freude zu
dir, damit du auch mich unter Jubel als Jünger dessen empfängst, der an dich
gehängt wurde… O seliges Kreuz, das du die Majestät und Schönheit der Glieder
des Herrn empfingst! … Nimm mich, führe mich weit weg von den Menschen und gib
mich meinem Meister zurück – auf daß mich durch dich derjenige empfange, der
mich durch dich erlöst hat. Gegrüßet seist du, o Kreuz; ja, sei wahrhaft
gegrüßt!« Wie man sieht, tritt hier eine sehr tiefe christliche Spiritualität
zutage, die im Kreuz nicht so sehr ein Folterwerkzeug sieht als vielmehr das
herausragende Mittel für eine vollkommenen Angleichung an den Erlöser, an das
in die Erde gefallene Weizenkorn. Wir müssen daraus eine sehr wichtige Lehre ziehen:
Unsere Kreuze erhalten einen Wert, wenn sie als Teil des Kreuzes Christi
betrachtet und angenommen werden, wenn der Abglanz seines Lichtes sie erreicht.
Nur von jenem Kreuz werden auch unsere Leiden geadelt und erhalten ihren wahren
Sinn.
Der Apostel Andreas möge uns also lehren, Jesus bereitwillig
nachzufolgen (vgl. Mt 4,20; Mk 1,18), allen Menschen, denen wir begegnen, mit
Begeisterung von ihm zu erzählen und vor allem eine Beziehung echter
Vertrautheit mit ihm zu pflegen, im Bewußtsein, daß wir nur in ihm den letzten
Sinn unseres Lebens und unseres Todes finden können.