Die Geschlechterbeziehungen in Ovids Ars amatoria

Als ich zu Beginn der 80-er Jahre mit Schülern Texte aus der Ars amatoria las, kamen mir pädagogische Zweifel, ob sie jungen Menschen brauchbare Perspektiven bietet. Ich setzte mich daher genau mit den Inhalten dieser Dichtung auseinander und kam zu dem Schluß, daß sie Schülern keine verläßliche Orientierung über die Liebe bietet. Ich habe daraufhin keinen weiteren Lektüreversuch unternommen. Meine damalige Ausarbeitung habe ich fürs Internet fast unverändert übernommen. Sie versteht sich als eine Kombination von Interpretation und Bewertung.

Bekanntlich war die Ars amatoria der Hauptgrund für Ovids Verbannung aus Rom im Jahre 8 n.Chr. Augustus wollte nicht dulden, daß seine Bemühung um moralische Erneuerung, wozu besonders die Ehegesetzgebung gehörte, durch eine Form der Liebesdichtung untergraben wurde, die sich um Ehe und Moral nicht kümmerte,. Denn Ovids Liebesdichtung genoß eine hohe Popularität unter seinen Zeitgenossen und übte eine entsprechende Wirkung aus.

Mit seinem neuen Werk, das die Thematik der Amores fortsetzte, wollte sich Ovid keineswegs gegen Ehe und Moral wenden, denn er klammert ausdrücklich beide Bereiche aus:

Este procul, vittae tenues, insigne pudoris,

quaeque tegis medios instita longa pedes.

Hauptumwallende Binde sei fern, du Zeichen der Keuschheit,

und du langer Besatz, der die Füße verhüllt.

Für Ovid bot diese Trennung, die uns nicht so ohne weiteres verständlich ist, kein Problem. Seine Haltung ist zu erklären aus dem eigentümlichen Verhältnis von Form und Inhalt in der antiken Dichtung. Denn nicht der Inhalt sucht sich seine angemessene literarische Form, sondern die tradierte und autorisierte Form steckt den Rahmen ab für den Inhalt. Sobald eine literarische Form allgemein anerkannt war, kam es darauf an, sie mit variierenden Inhalten zu füllen, wobei weiterhin formale Elemente einen beträchtlichen Raum einnahmen. Ein formaler Aspekt z.B. war es, Anklänge an bereits bekannte Bearbeitungen derselben Art erkennen zu lassen, aber gleichzeitig so, daß auch das Neuartige aufschien. Formale Kategorien besaßen so eine Legitimation in sich. Insofern ihnen literarische Gültigkeit zuerkannt wurde, waren sie dem Inhalt als der konkreten Realität übergeordnet. Konkrete Wirklichkeit wurde also gewissermaßen an formaler Realität aufgehängt. Damit ergaben sich zwei Realitätsebenen und es konnte sich die Frage erheben, welche von beiden die eigentliche sein solle. Bei Ovid spielt nun in der Tat formale Gestaltung eine herausragend Rolle und insofern formale Gesetzmäßigkeiten ihre Realität im Denken selbst besitzen, werden bei Ovid die konkreten Inhalte in hohem Maß aus dem Spiel der Vorstellung und der Phantasie geboren. Damit stellt sich die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug von Ovids Liebesdichtung. Was ist dichterisches Spiel und was ist ernst gemeint? Ovid beantwortet die Frage so, daß er dazu neigt, nur dichterisches Spiel ernst zu nehmen. Wie ernst konnte er dann aber selbst genommen werden?

Ovid gibt sich seine eigene dichterische Konzeption vor. Er unterscheidet zunächst zwischen ernster und leichter Dichtung, wobei letztere als nicht ernstzunehmende zu verstehen ist. Der Gegensatz lautet nicht Ernst und Komik, sondern Ernst und Spiel. Die literarische Form für ernste Inhalte ist das Epos. Ovid gibt offen zu, daß ihm diese Darstellungsart nicht liegt und wendet sich daher der leichten Dichtung zu. Diese sieht er besonders in der Elegie verkörpert:

Blanda pharetratos Elegeia cantet Amores

et levis arbitrio ludat amica suo. Rem.am.379/80

Thais in arte mea est: lascivia libera nostra est;

nil mihi cum vitta: Thais in arte mea est. Rem.am.385/86

Die schmeichelnde Elegie soll köcherbewehrte Liebesgedichte singen

und als heitere Freundin spielen, wie es ihr gefällt.

Thais herrscht in meiner Kunst: freie Ausgelassenheit ist meine Sache;

nichts habe ich mit der sittsamen Haarbinde zu schaffen: denn Thais herrscht in meiner Kunst.

(Thais ist eine der berühmtesten und gefeiertsten griechischen Hetären, die Geliebte Alexanders des Großen und des Ptolemaios I. von Ägypten. Ihr wird Andromache,die Gattin Hektors, gegenübergestellt, sie gilt als Muster ehelicher Treue und sittlicher Reinheit.)

Nach Ovids Konzeption der Elegie, die nicht mehr dieselbe ist wie bei Tibull und Properz, ist eine ernsthafte Darstellung der Liebe nicht möglich. Da aber die Ehe ein ernsthafter Gegenstand – auch für Ovid – ist, kann sie in seinen Gedichten keine ihr angemessene Berücksichtigung finden. Ovid fesselt sich sozusagen selbst durch sein formalistisches Denken.

Der erste formale Gesichtspunkt der Ars amatoria ist also die leichte Darstellungsweise. Ein weiterer betrifft die Gliederung des Werkes. Es ist zutreffend festgestellt worden, daß die Dreiteilung eine bewußte Anlehnung an die Gliederung rhetorischer Lehrwerke (ars oratoria) darstellt. Diese Übertragung einer Gliederung von einem ernsten Thema auf ein nicht ernstes bedeutet bereits Begründung von Nicht-Ernstem in sich. Als Lehrgedicht hat die Ars amatoria griechische Vorbilder im Thema und römische in der Form, darunter besonders De rerum natura – Vom Werden der Welt des Lukrez und Vergils Georgica – Vom Landbau. Somit bedingt der Charakter der Elegie, daß ein ernster Lehrgegenstand spielerisch behandelt wird.

Die Ars amatoria behandelt das Thema der Liebe in den Grenzen der elegischen Form. Wie Ovid diese Liebe versteht, geht aus der Einleitung des Werkes klar hervor. Wichtig für das Verständnis sind besonders die Begriffe ars amandi und Amor.

Amor wird in doppelter Bedeutung als Gott und als Personifizierung von Liebeserleben aufgefaßt. Amor ist ein Knabe (Z.10), er ist ferus (Z.9) und saevus, d.h., wild und ausgelassen, ungestüm und unberechenbar. Die Liebe, die er erzeugt, ist ein schwer zu beherrschender Gefühlssturm oder Affekt. Aber wie er als Knabe noch formbar und lenksam (mollis et apta regi, Z.10) ist, so ist auch der Affekt der Liebe durch Kunst und Überlegung in die richtigen Bahnen zu lenken (arte regendus amor,Z.4).

Durch den Begriff ars wird auch die Bedeutung von amare bestimmt. Es ist damit offensichtlich ein Bereich des Liebens gemeint, der erlernbar und durch Bemühung erreichbar ist. Aus den Zeilen 35-40, die die Gliederung des Werkes angeben, wird Ovids Haltung zu seinem Thema besonders deutlich. Lieben faßt er als ein alle Sinne erregendes Abenteuer auf. Der Ablauf dieses Abenteuers ist vergleichbar mit einem Wagenrennen (curru) auf einer Rennbahn (area), das eine Startlinie und ein Ziel hat. Dabei gilt es mit vollem Einsatz zu kämpfen und mit hohem Können kostbare Raum- und Zeitvorteile zu gewinnen:

Haec erit admissa meta premenda rota.

Das ist die Wendemarke, die es mit wirbelndem Rad haarscharf zu umfahren gilt.

Der Liebesabenteuerer hat sich gegen Rivalen zu behaupten, ihm winkt aber ein hoher Preis, wenn er Sieger bleibt.

In den Zeilen zuvor (31-34) gibt Ovid an, welchen Bereich der Liebeskultur er nicht mit amare meint: die Liebe in der Ehe bzw. die Institution der Ehe selbst. Die vittae sind kultische Stirnbinden, wie sie die Vestalinnen trugen, und somit insigne pudoris, Zeichen der Sittsamkeit. Diese Abgrenzung enthält eine Doppeldeutigkeit. Einerseits ist nicht zu bezweifeln, daß Ovid die Ehe als gesellschaftliche Institution, die auch kultisch in der Staatsreligion verankert ist, nicht antasten will und somit den Begriff pudor ernst meint und positiv versteht. Andererseits aber wird, indem die Reize der Liebe außerhalb der Ehe dargestellt werden, die Liebe innerhalb der Ehe als reizlos und wenig erstrebenswert hingestellt.

Die Art der Liebe, die er darstellen möchte, nennt Ovid concessa furta, erlaubte Diebstähle. Ein erlaubter Diebstahl ist ein Widerspruch, denn Diebstahl ist immer Unrecht. Wer wird durch den Diebstahl geschädigt? Von der Sicht des Mannes könnte man an die Frau denken, von der er sich einen Liebesgenuß verschafft. Übersetzt man furtum übertragen mit heimliche Liebschaft, könnte der Ehemann der Frau oder umgekehrt die Ehefrau des Mannes gemeint sein. Wenn furta gelten soll, dann ist auf jeden Fall concessa eine gewagte Behauptung des Dichters, für die er irgendwie Beweisgründe erbringen muß. Ovid tritt keinen direkten Beweis an, doch scheint sich seine mehr oder weniger ausgesprochene Rechtfertigung zum einen auf das Phänomen der Liebe selbst und zum anderen auf die Wesensart und den Charakter der Frau beziehen.

Ovid verheißt dem Liebesschüler venerem tutam, sicheren Liebesgenuß. Das sichere Liebeserlebnis ist offensichtlich Rechtfertigung in sich. Für Ovid hat die Liebe keinen notwendigen Bezug zu einer bleibenden Ordnung, wie sie die Ehe darstellt. Die Liebe in der Ehe erscheint eher belastet durch vielerlei Verpflichtungen und durch die Monotonie der Gewöhnung. Nur eine von institutionellen Bindungen freie Liebe kann zu wirklicher Vollendung gelangen. Erotische Erfüllung, in der Ehe nur unvollkommen zu erreichen und eher Begleiterscheinung, wird in der freien Liebesbeziehung zur Hauptsache und um ihrer selbst willen gepflegt. Die Erlaubtheit der freien Liebe leitet sich also von der Vorstellung ab, nur sie ermögliche höchsten Liebesgenuss und gelange zu ihrer wesensgemäßen Erfüllung. Ja, dieser hängt sogar engstens mit ihrer Heimlichkeit und ihrer riskanten Ausführung zusammen. In dieser Hinsicht zeigt der chiastisch gestellte Ausdruck venerem tutam concessaque furta eine wechselseitige Bedingtheit an.

Nicht nur die Liebe, sondern auch die Frau selbst sieht Ovid losgelöst von Zuordnungen, wie z.B.zur Ehe oder zum Mann. Er betrachtet die Frau in ihrem geschlechtlichen Eigensein und prüft Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Vergleich zum Mann. Dabei ist er überzeugt, daß die Frau von denselben Wünschen und Begierden angetrieben wird wie dieser:

Utque viro furtiva venus, sic grata puella.

Vir male dissimulat, tectius illa cupit. 1,275/76

Und wie dem Mann der geheime Genuß, so gefällt er dem Mädchen.

Schlecht nur verstellt sich der Mann, jene verborgener wünscht.

Ja, Ovid glaubt feststellen zu können, daß die Frau von heftigeren Begierden beherrscht wird als der Mann:

Omnia feminea sunt ista libidine mota.

Acrior est nostra, plusque furoris habet. 1,341/42

All dies ist von weiblicher Begierde veranlaßt.

Sie ist heftiger als die unsrige und hat mehr Leidenschaft.

Im Streben nach Erfüllung der Wünsche erkennt Ovid jedoch eine eindeutige Rollenverteilung:

Vir prior accedat, vir verba precantia dicat.

excipiat blandas comiter illa preces.

Ut potiare, roga. Tantum cupit illa rogari. 1,709-11

Der Mann nahe zuerst, der Mann sage bittende Worte.

Jene nehme die schmeichelnden Bitten freundlich auf.

Bitte sie, daß du sie in Besitz nehmen darfst. Sie wünscht nur,

daß sie gebeten wird.

In beiden Geschlechtern ist also das Streben nach Liebesgenuß vorhanden, beim Mann offen, bei der Frau verborgen. Wenn dabei dem Mann die aktive Rolle zufällt, dann ist es geradezu seine Verpflichtung, die Frau zur Überwindung ihrer eigenen Hemmungen (pudor) zu bewegen und ihr zu ihrem insgeheim ersehnten Glück zu verhelfen.

Ovid setzt also voraus, daß jede Frau auf ihren Verführer und Eroberer wartet, sei sie unverheiratet oder verheiratet, jung oder alt. Unter dieser Voraussetzung hängt der Erfolg des Liebesabenteurers einzig von seinem Verführungsgeschick ab. Theoretisch ist also jede Frau aufgrund ihrer Wesensnatur verführbar:

Prima tuae menti veniat fiducia, cunctas posse capi.

Capies, tu modo tende plagas. I, 269/70

Fasse zuerst in deinem Geist das Vertrauen, daß alle gefangen werden können.

Du wirst sie fangen, wenn du nur die Netze spannst.

Mit einer solchen Einstellung ist draufgängerischem Liebesabenteuer Tür und Tor geöffnet, da es den Mann reizt, die Grenzen seiner Verführungskünste zu erproben.

Um zu seinem Ziel zu gelangen, sind dem Mann alle Mittel der Verstellung und Täuschung erlaubt, selbst der Meineid:

Iuppiter ex alto periuria ridet amantum. I, 636

Jupiter lacht aus der Höhe über die Meineide der Liebenden.

Während man sich im übrigen Leben von Betrug fernhalten soll (fraus absit, I,642), gilt dieses Verhalten nicht gegenüber den Frauen:

Ludite, si sapitis, solas impune puellas,

hac minus est una fraude pudenda fides.

Wenn ihr klug seid, spielt nur mit den Mädchen ungestraft.

Außer diesem einen Betrug muß man die Treue achten.

Eine Verantwortung gegenüber den Frauen ist umso weniger am Platze, als sie ebenso betrügerisch sind wie die Männer, wenn nicht noch schlimmer:

Fallite fallentes. Ex magna parte profanum

sunt genus. In laqueos, quos posuere, cadant. I, 645/46

Ergo ut periuras merito periuria fallant,

exemplo doleat femina laesa suo. I, 657/58

Täuscht die Täuschenden. Sie sind zum großen Teil ein liederliches Geschlecht.

Sie mögen in die Schlingen fallen, die sie gelegt haben.

Da mit also Meineidige die gerechte Strafe erhalten, sollen die Männer sie durch Meineid betrügen.

Auf diese Weise leide die betrogene Frau nach ihrem eigenen Beispiel.

In diesen Zeilen drückt sich ein negatives Werturteil über die Frau aus, das dem Mann zu einer billigen Rechtfertigung dienen kann, sein Ziel ohne moralische Bedenken anzustreben. Eine schuldhafte Verführung ist nach dieser Logik ausgeschlossen.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Ovids ars amatoria in einem eigentümlichen Schwebezustand zwischen Fiktion und Wirklichkeit verharrt. Während sich Ovid auf den Geltungsvorrang der Fiktion berief, nahm ihn Augustus beim Wort und stellte ihn durch seine Verbannung auf den Boden historischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit.

Mag seine Verbannung tragisch sein, sie kann dem heutigen Leser dazu dienen, sich die gesellschaftliche Problematik seiner Liebesdichtung bewußt zu halten.

 

Erstellt: April 2005

 

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